„Abitur für alle mit Vollkasko-Garantie“ – mit geringer Selbstbeteiligung

Neue Schulen dringend gesucht

Bildungsstaatssekretär Mark Rackles (SPD) im TSP vom 09.03.2017 von Susanne Vieth-Entus:

„Nach derzeitigem Stand ist die Reaktivierung von 16 Liegenschaften und die Erweiterung 68 bestehender Grundschulstandorte geplant“. Von 28 Standorten, die für die Bebauung mit einer neuen Grundschule vorgesehen sind, sind nur neun bereits verfügbar. (…)

Weiter schreibt der TSP:  Auffällig ist, dass kaum Erweiterungen der Gymnasien geplant sind. Rackles begründet dies damit, dass es aktuell noch freie Kapazitäten an Gymnasien gebe. Im Übrigen könnten Oberschulstandorte je nach Bedarf sowohl an Gymnasien als auch als ISS [Integrierte Sekundarschule] genutzt werden. FDP-Bildungspolitiker Paul Fresdorf ist allerdings skeptisch und vermutet, dass der Senat „nur die ideologisch bevorzugte Schulform Gemeinschaftsschule“ privilegieren wolle.  Im Vorfeld hatte bereits der Berliner Philologenverband alarmiert darauf reagiert, dass die Gymnasien im jüngsten Bericht der „AG Schulraumqualität“ überhaupt nicht vorkamen. (…)

Ein Blick in die Vereinbarungen der Koalition aus SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/ Die Grünen zu „Schule und Bildung in Berlin“ bringt die Bestätigung!

Schulneubau – Gemeinschaftsschule:

Die Gemeinschaftsschule wird als schulstufenübergreifende Regelschulart, die Grund- und Sekundarstufe I und II umfasst, in das Schulgesetz aufgenommen. Die Koalition unterstützt bei notwendigem Schulneubau vor allem die Neugründungen von Gemeinschaftsschulen. (Koalitionsvertrag S. 10)

Dort wo Grundschulen und weiterführende Schulen benötigt werden, sind die Neubauten baulich für die Nutzung als Gemeinschaftsschulen vorzusehen. (Koalitionsvertrag S. 66)

Die unverhohlene politische Schwerpunktsetzung auf die Gemeinschaftsschule und kritische Aussagen zu deren propagierter Lernkultur:

In Anbetracht der politisch gewollten und tatsächlich wachsenden Heterogenität in den Schulklassen wird mit dem Konzept der Gemeinschaftsschule die strittige Schlussfolgerung abgeleitet: Unterricht müsse eine weitgehende Individualisierung ermöglichen.

Die kritische Bestandsaufnahme der Gemeinschaftsschule hat jedoch offenbart, dass beim Individuellen Lernen vor allem die Kinder aus bildungsfernen Familien benachteiligt sind, da sie der helfenden und fördernden Hand der Lehrkraft besonders bedürfen. Auch eine noch weitergehende Individualisierung der Lernarrangements, z.B. durch Werkstatt- und Wochenplanarbeit, Arbeit im Lernbüro und im offenen Lernen, wie von der Gemeinschaftsschule propagiert, erscheint nicht als die Problemlösung. Wie in mehreren aktuellen Studien (Hattie, Lipowsky, u.a.) bereits nachgewiesen, läuft diese Vorgehensweise des individualisierenden und selbständigen Lernens Gefahr, dass insbesondere Schüler mit schwächeren und ungünstigeren Voraussetzungen nicht angemessen gefördert werden. Die Schere zwischen leistungsstärkeren und -schwächeren Schülern wird damit nicht verringert. Die politischen Vorgaben, durch die Gemeinschaftsschule Schüler zu mehr Chancengleichheit zu führen und Chancengerechtigkeit zu verwirklichen, kann demnach auf diesem Wege nicht eingelöst werden. Das politische Ziel der rot-rot-grünen Koalition ist dennoch: „Eine Schule für alle“, d.h. eine leistungsnivellierende Einheitsschule, verwirklicht über die Gemeinschaftsschule! Nach dem Motto: „Abitur für alle mit Vollkasko-Garantie“ – mit geringer Selbstbeteiligung. Die Opfer und Leittragenden eines so merkwürdigen Verständnisses von „Bildungsgerechtigkeit“ sind zwangsläufig die Schülerinnen und Schüler, das heißt unsere Kinder!

Siehe:  Frank Lipowsky, Miriam Lotz, Ist Individualisierung der Königsweg zum erfolgreichen Lernen? – Eine Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und empirischen Befunden, 2015; Christoph Türcke, Lehrerdämmerung – Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet, 2016; Martin Wellenreuther, Direkte Instruktion, Michael Felten, Lernwirksamkeit statt Methodenfeuerwerk, Jochen Grell, Das Direkte Unterrichten und seine Feinde, in Pädagogik 1/2014; John Hattie, Lernen sichtbar machen, 2013; John Hattie, Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen, 2014; Frankfurter Allgemeine Zeitung, Bildungswelten, 17.11.2016, Rainer Werner, Rote Laterne für Berlin; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.02.2017, Klaus Ruß, Ermäßigungspädagogik – Wie die Schule es schafft, zu Lasten der Kinder zielstrebig ihre Anforderungen zu senken.

siehe auch: Die Berliner Gemeinschaftsschule – Des Kaisers neue Kleider?  Analyse der Gemeinschaftsschule Berlin