Archiv der Kategorie: Schule und „Digitales Lernen“

Tablets für alle – Kindergarten und Schule gerettet!?

Karin Prien ist seit Jahren Bildungspolitikerin und aktuell bis Jahresende auch Präsidentin der Kultusministerkonfernz. Vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) der Humboldt-Universität zu Berlin kam die Studie „Bildungstrend 2021“ heraus, die den Viertklässlern noch gravierendere Defizite in Deutsch und Mathematik bescheinigte als je zuvor.

Rund 27% der Schülerinnen und Schüler in Berlin erreichen im Bereich Lesen und Zuhören – in Orthografie sind dies 46% und in Mathematik 34,5% – nicht das für ein selbstbestimmtes Leben und die Teilhabe an der Gesellschaft erforderliche Mindestniveau. Ihnen fehlen basale Grundkenntnisse!

Die Erkenntnis der Präsidentin nach bereits sieben PISA-Runden: „Nach Pisa ist viel zu wenig passiert“. Eine Lösung für die Schülerinnen und Schüler sieht sie in den digitalen Medien. Nachfolgend die Entgegnung eines Berliner Lehrers.


Sehr geehrte Frau Präsidentin Prien!

Mit großem Interesse habe ich Ihr Interview im Tagesspiegel vom 30. Oktober gelesen. Die Frage „Braucht jedes Schulkind ein Tablet“ beantworteten Sie mit „Ja, jedes Kind braucht ein Endgerät“, um dann auf Finanzierungsfragen einzugehen.
Über diese (teure) Aussage ohne pädagogische Begründung, ohne wissenschaftliches Fundament war und bin ich doch sehr überrascht, insbesondere wegen Ihrer prominenten und einflussreichen Position und Ihrer ausführlichen Hinweise zuvor, dass Eltern mit ihren Kindern viel sprechen und ihnen vorlesen sollen, persönliche Bindungen und Vorbilder demnach der Kern sind, „basal“ und „unverzichtbar“, wie Sie betonen. Später beklagen Sie die Skepsis von Lehrern gegenüber Lernstandserhebungen und die mangelnde Akzeptanz von Förderprogrammen, deren Nutzen wissenschaftlich erwiesen sei, und fordern deren Verwendung verbindlich.
Ich kenne keine einzige seriöse Studie, die für Kinder oder Jugendliche in der Pubertät einen (nachhaltigen) positiven Effekt von Tablets in Bezug auf Allgemeinbildung in der bzw. durch die Schule oder auf die Primär- oder wenigstens Sekundärtugenden nachweist, schon gar nicht bei Kindern im Grundschul- oder Kindergartenalter, auf die sich das Interview fokussiert. Die Corona-Jahre haben doch unterstrichen, dass der Computer eben nicht die Lösung fürs Erlernen unserer Kulturtechniken ist – im Gegenteil! Die durchschnittlichen Bildschirmzeiten von Kindern und Jugendlichen legen nahe, dass hier wohl kein Nachholbedarf besteht.
Mitnichten bin ich ein Feind digitaler Medien, nutze sie im Unterricht, aber sie bleiben eben vermittelndes Element, sind nicht Selbstzweck – und ganz sicher nicht die eierlegende Wollmilchsau der Bildung in der Schule.
Ein pauschales Ja der Präsidentin der Kultusministerkonferenz zu Endgeräten in der (Grund-) Schule oder gar bereits im Kindergarten vermittelt aber gerade den Eindruck, durch Tablets für jedes Schulkind (prompt) Erfolge erzielen zu können. Sie sagen zu Beginn des Interviews selbst: „In der Bildungspolitik gibt es keine kurzfristigen Erfolge, sondern es helfen nur langfristige Strategien.“
Wie lauten die Strategien und deren wissenschaftliche Begründungen durch unabhängige Forscher?

Mit freundlichen Grüßen,
Thilo Steinkrauß


Thilo Steinkrauß ist Fachbereichsleiter für Mathematik am Herder-Gymnasium in Berlin-Charlottenburg
www.herder-gymnasium.eu

Siehe dazu auch den Beitrag:
Überwachungstechnologie in der Schule als KMK-„Bildungskonzept“ – Kritische Anmerkungen zu den Vorstellungen der Kultusministerkonferenz zum „Lehren und Lernen in der digitalen Welt“.

Überwachungstechnologie in der Schule als KMK-„Bildungskonzept“

Kritische Anmerkungen zu den Vorstellungen der Kultusministerkonferenz zum „Lehren und Lernen in der digitalen Welt“.


Manfred Fischer, für Schulforum-Berlin, 18.04.2022

Analysiert wird der 34seitige Onlinebeitrag „Die ergänzende Empfehlung zur Strategie Bildung in der digitalen Welt[1], Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) vom 09.12.2021. Dazu werden Aussagen aus den Hauptkapiteln „Einleitung“, „Lernen“, „Lehren“, „Weitere Arbeitsschwerpunkte“ zitiert, die die Vorgaben der KMK zum „digitalen Lehren und Lernen“ charakterisieren, um so die Zielrichtung der „Empfehlung“ zu verdeutlichen.

Es ist unverkennbar, dass durch die „Empfehlung“ administrativer Druck auf die Schulverwaltung, Schulen sowie Lehrerinnen und Lehrer ausgeübt werden soll, denn umgesetzt werden soll eine ganz neue Lehr- und Lern“kultur“. Diesen administrativen Druck[2] forderte schon Jacob Chammon, Vorstand des Netzwerks Forum Bildung Digitalisierung, einer Initiative von neun Bildungsstiftungen[3] – ebenso wie Andreas Schleicher, OECD-Bildungsdirektor und Koordinator der internationalen Pisa-Studien. Das Forum sowie die unternehmensnahen Stiftungen geben entsprechende „Empfehlungen, erarbeiten praktische Lösungen und leisten Orientierungshilfe für schulische Veränderungsprozesse.“[4] Ihre „Empfehlungen“ sind passgenau ausgerichtet an den Medien- und IT-Produkten der jeweiligen Technologieunternehmen im Hintergrund.

Als erfolgversprechend für das Lernen und Lehren gilt, so die KMK-Autoren[5], wenn die Schulen auf eine mit „technologiebasierten Innovationen“ (S. 4) gestaltete „Bildungs“-Revolution setzen. Gefordert wird, dass „in jedem Unterricht an allen Schulen die Potenziale der digitalen Technologien durchgehend zu nutzen“ (S. 8) sind – ganz im Sinne der antreibenden Education Technology-Akteure.[6]

Einleitung

In ihrem Beschluss vom 9.12.2021 erweitert die KMK die 2016 gefasste Definition des Digitalisierungsprozesses. Sie suggeriert, dass „Die ergänzende Empfehlung zur Strategie Bildung in der digitalen Welt“ den Weg aufzeigt vom „Lehren und Lernen mit digitalen Medien und Werkzeugen” hin zum „Lernen und Lehren in einer sich stetig verändernden digitalen Realität, die als `Kultur der Digitalität´ insbesondere in kulturellen, sozialen und beruflichen Handlungsweisen deutlich wird und wiederum Digitalisierungsprozesse auslöst“ (S. 3).

Um die Herausforderungen für das Lernen und Lehren in der digitalen Welt wie den „Umgang mit Heterogenität“, den „Abbau von Bildungsungleichheit“ oder die „Öffnung und Flexibilisierung von Bildungswegen“ bewältigen zu können, sieht die KMK „technologiebasierte Innovationen“ (S. 4) als Lösung. Auch wird gefordert, dass die Impulse zur Digitalisierung der Schulen – bedingt durch den mit der „Corona-Pandemie einhergegangenen Digitalisierungsschub“ – „aufzugreifen, weiterzuentwickeln und nachhaltig für eine `neue Normalität´ zu verankern“ (S. 4) sind.

Es erstaunt nicht, dass sich der Vorstand des Netzwerks Forum Bildung Digitalisierung, Jacob Chammon, ähnlich dazu äußert: „Es müsste eine klare Ansage der Schulverwaltung kommen, dass es [nach Corona] kein ‚back to normal‘ geben darf. Bei der nächsten Schulinspektion sollte überprüft werden, wie die Schulen das, was sie über das digitale Lernen gelernt haben, im normalen Schulalltag umsetzen.“[7]

Was unter einem „normalen Schulalltag“ mit den „technologiebasierten Innovationen“ zu verstehen ist, wird bereits in der am 1.7.2021 veröffentlichten Trendstudie „KI@Bildung“[8] der Telekom-Stiftung mit dem Titel „Lehren und Lernen in der Schule mit Werkzeugen Künstlicher Intelligenz“ deutlich. Gefordert werden dort „KI-gestützte, lernförderliche Technologien, d.h. Lösungen, die auf Technologien wie Machine Learning[9], Educational Data Mining[10] oder Learning Analytics[11] basieren.“ Es wird behauptet, dass diese „erhebliche Potenziale für alle Bereiche der schulischen Bildung“ bieten, so z.B. durch „intelligente Lernanwendungen“, indem individualisiertere Lernformen und Assistenzsysteme[12] sowie automatisierte Leistungsbewertungen, Lernempfehlungen und Prognosen realisiert würden. Weiter wird hervorgehoben, dass im Unterrichtsgeschehen neue Formen des Assessments[13], Gradings[14], Tutorings[15] und Classroom-Managements[16] möglich werden. Mit Hilfe von Data Mining und Analytics könnten auf der Schul-Organisations-Ebene z.B. Evaluations- und Planungsprozesse optimiert werden. Vor allen Dingen, so wird in der Studie „KI@Bildung“ gefordert, sollte „auch die praktische Erprobung und `Erdung´ [d.h., der dauerhafte Einsatz] dieser Technologien im Schulalltag ermöglicht und systematisch evaluiert werden.“[17]

Bei der Arbeit mit digitalen Medien und Werkzeugen fallen eine Unmenge von Daten an, die sich unterschiedlich auswerten und nutzen lassen. Dazu lautet die Forderung der KMK: Die „Bildungseinrichtungen müssen dieser wachsenden Bedeutung von Bildungsdaten und Bildungsdokumentation Rechnung tragen und die Vor- und Nachteile, u. a. welche Rolle Algorithmen[18] bei didaktischen und pädagogischen Entscheidungen spielen könnten, entsprechend abwägen“ (S. 5).

Wie eine „Abwägung“ der Nutzung personenbezogener Daten, hier verschleiernd als „Bildungs“daten und „Bildungs“dokumentation bezeichnet, vorzustellen ist, beschreibt der ehemalige Berliner Bildungssenator Jürgen Zöllner, heute aktiv in der Wübben Stiftung: „Datenschutz ist zum Kult geworden, der zum Selbstzweck mutiert“. Weiter führt er aus, dass „innovative Schulen mit ebensolchen Lehrkräften […] mit absurden bürokratischen und datenschutzrechtlichen Steinen, die ihnen in den Weg gelegt werden“, zu kämpfen hätten.[19] Deutlich wird, dass heute ein ehemaliger Bildungspolitiker als „Echokammer“ der Interessen von internationalen Education Technology-Unternehmen fungiert. Zur Erinnerung: Die Wübben Stiftung ist Mitglied im Netzwerk „Forum Bildung Digitalisierung“.[20]

Angesichts des Einsatzes „KI-gestützter technologiebasierter Innovationen“ in einer sich „stetig verändernden digitalen Realität“ (S. 3), muss bezweifelt werden, ob der Schutz der „Bildungsdaten“ unserer Schülerinnen und Schüler für die KMK-Autoren wirklich von Bedeutung ist, auch wenn sie schreiben: „Daten dürfen nur für Verwendungszwecke genutzt werden, die vor ihrer Erfassung festgelegt worden sind, und es ist auch zu definieren, wer mit welchem Ziel die Daten nutzen kann“ (S. 5 f.).

Lernen                         

Die KMK-Autoren schreiben, trotz der von ihnen hervorgehobenen Bedeutung der digitalen Technologien und der von ihnen vorgegebenen „Potenziale“ für das Lernen, dass Lernen ein „sozialer Prozess“ ist und fügen hinzu, dass in diesem Prozess „Beziehungen zu Lehrenden und weiteren Lernenden entscheidend sind“ (S. 7). Auch hier ist für das Vorgehen der KMK-Autoren festzuhalten, dass ein Kernelement „guten Unterrichts“, die Beziehung beim Lernen[21], deren Qualität zu den wirkmächtigsten Einflüssen auf die Lernleistung zählt, nur erwähnt, aber nicht deren wirkliche Bedeutung erfasst und beschrieben wird. Deutlich wird die Absicht und das verschleiernde Vorgehen, wenn sie fordern: „Zukünftig gilt es, in jedem Unterricht an allen Schulen die Potenziale der digitalen Technologien durchgehend zu nutzen“ (S. 8) […], beginnend mit „angepassten Lernsettings“ in der „Primarstufe“ und eingebunden in den „Alltag“ aller Schülerinnen und Schüler. Die KMK-Autoren führen weiter aus, dass dies „eine wichtige Grundvoraussetzung für Bildungsgerechtigkeit ist“ (S. 8), um auf diesen Kompetenzen an den weiterführenden Schulen aufbauen zu können. 

Auf den folgenden Seiten des Onlinebeitrages berichten die Autoren, oft im Konjunktiv, über die „möglichen Potenziale“[22] der digitalen Medien und Werkzeuge für das Lehren und Lernen in der digitalen Welt – wohl wissend, dass die Wirksamkeit der entsprechenden Produkte auf dem „unübersichtlichen Markt […] allerdings kaum geprüft“[23] wurde. Dies stellte die „Ständige wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz“ selbst fest.

Trotz der vielen Erfolgsversprechen der „Wirkung der digitalen Tools“ ist festzuhalten: Es gibt keine kontrollierten Studien über die Wirksamkeit der digitalen Lernwerkzeuge. Auch fehlen Studien zur Belastbarkeit, d.h. zur Glaubwürdigkeit der Aussagen zu den Lehr- und Lernprodukten. Die Erfolgsversprechen basieren auf Aussagen einzelner Akteure und Lobbyisten oder entspringen der werbewirksamen Produktbeschreibung der Hersteller.[24] 

Obwohl diese Zusammenhänge bekannt sind, fahren die KMK-Autoren mit der Aufforderung fort: „Insgesamt sind aktuelle Entwicklungen und Ansätze wie z.B. adaptive und flexible Lernsysteme (intelligente tutorielle Systeme), Gamification[25], unterstützende Techniken wie z.B. Augmented-Reality[26] und Virtual-Reality[27] zu beachten, zu reflektieren und einzubeziehen“ (S. 12). Sie weisen darauf hin, dass bei dieser Technikunterstützung „dem Aspekt der Lernbegleitung und der (Selbst-)Reflexion eine besondere Bedeutung“ (S. 12) für die Lehrkräfte zukommt. Als Ausgangspunkt für weitere technologiebasierte Innovationen sollen „[g]ute Beispiele aus den [Bundes]Ländern sowie wissenschaftliche Erfahrungen und Erkenntnisse“ (S. 14) einbezogen werden. Dazu geben die Autoren keine Quellen an.            

Die KMK-Autoren bemerken: „Die Potenziale der Digitalität entfalten sich nicht automatisch, sondern vor dem Hintergrund der Qualitätsmerkmale guten Unterrichts“ (S. 12).

Auch hier, wie im folgenden Kapitel „Lehren“ umgehen die Autoren eine Auseinandersetzung mit den Inhalten der „Qualitätsmerkmale guten Unterrichts“[28] und deren Umsetzung.

Die Basisdimensionen für die „Qualitätsmerkmale guten Unterrichts“: „Gute Klassenführung“, „Konstruktive Unterstützung“ und „kognitive Aktivierung“ der Schülerinnen und Schüler, sind für die KMK-Autoren nur ein kurzer Hinweis, denn die angeblichen „Potenziale“ der „technologiebasierten Innovationen“ sollen auch hier Top-Down umgesetzt werden, wie im nächsten Kapitel deutlich wird.

Lehren

Die KMK-Autoren beginnen diesen Abschnitt mit der Feststellung, dass hinsichtlich der erfolgreichen Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen die Lehrkräfte und ihre professionellen Kompetenzen von zentraler Bedeutung sind. Das jedoch erfordere bei zunehmender Relevanz digitaler Medien und Werkzeuge im Unterricht eine kontinuierliche Professionalisierung, die sich durch die sich ständig verändernden technischen und pädagogischen Entwicklungen notwendig wird. Dieser Professionalisierungsprozess erstrecke sich über die „gesamte Berufsbiografie einer Lehrkraft“ (S. 17) und sei als „kontinuierlicher Schulentwicklungsprozess“ (S. 17) zu betrachten. Eine nachhaltige Wirkung könne sich einstellen, wenn dieser „langfristig angelegt ist, realistische Entwicklungsziele verfolgt, die gesamte Schulgemeinschaft einbindet, von der Mehrheit des Kollegiums getragen wird und mit Ressourcen [!] hinterlegt ist“ (S. 17). Hierbei sollen die Schulen durch die Schulaufsicht beim „digitalisierungsbezogenen Innovations- und Changemanagement“[29] (S. 19) unterstützt werden.

Da jedoch die Entscheidungen zum „Lehren und Lernen in der digitalen Welt“ schon längst im Vorfeld gefallen sind, sollen diese durch „geschickte“ Steuerung im Kollegium um- und durchgesetzt werden. Durch das manipulative Vorgehen beim Changemanagement wird der Anschein erzeugt, das Kollegium selbst hätte sich auf den Weg gemacht, die Schule im Sinne des „kontinuierlichen Schulentwicklungsprozesses“ zu verändern.[30] Deutlich wird: „Lehrer sollen wollen, was sie sollen!“[31]

Auf den folgenden Seiten des KMK-Beitrags werden „weitere Empfehlungen zum Einsatz von digitalen Lernumgebungen in Lehr-Lern-Prozessen“ (S. 21) beschrieben. In den Empfehlungen und Beispielen geht es z.B. darum, eine Lehr-Lernkultur zu entwickeln, selbstgesteuertes Lernen zu fördern, Lernprozesse zu begleiten, Verhaltensregeln für Interaktions- und Kommunikationsprozesse zu erarbeiten und anzuwenden, Lern- und Videoplattformen für die Gestaltung und Realisierung von Lehr-Lern-Prozessen zu nutzen, Feedback regelmäßig einzuholen, Zusammenarbeit auch über die Schulgrenzen hinweg zu ermöglichen, den Kompetenzstand aller schulischen Akteure regelmäßig zu reflektieren und weiterzuentwickeln, digital unterstützte Verfahren zur formativen[32] und summativen Diagnostik zu entwickeln und zu implementieren, digitale Lernumgebungen in die Lernplattformen zielgerichtet anzubinden und die Potenziale des Marktes der Bildungsmedien aufzugreifen, ein länderübergreifendes Monitoringkonzept[33] der zentralen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrkräfte sollte diskutiert und möglichst verankert werden (vgl. S. 21-33).

Auch wenn die KMK-Autoren schreiben, dass „neben dem avisierten Potenzial und der technischen Realisierung – vor allem auch der Schutz der Persönlichkeitsrechte der Lernenden und Lehrkräfte“ (S. 32) handlungsleitend sein sollen, bleibt unberücksichtigt, dass die durch die digitalen Medien und Tools vielfältig gesammelten Daten nicht nur bei Schulen, sondern – so gewollt – bei den Startups und EdTech-Unternehmen landen. Vorgegeben wird, damit den individuellen Lernprozess der zuvor lückenlos vermessenen Schülerinnen und Schüler zu optimieren. Für diesen wie auch die anderen genannten Prozesse bedarf es einer Unmenge personenbezogener Daten – dem „Schmierstoff“ dieses digitalen Bildungsmodells. Die KMK-Autoren beachten nicht, dass die Schaffung einer den gesamten Bildungsweg durchziehenden, personenbezogenen, unkontrollierbaren Datensammlung erhebliche pädagogische und ethische Konsequenzen mit sich bringt.[34] Bereits zum jetzigen Zeitpunkt sind die damit einhergehenden Risiken erkennbar. Nicht umsonst hat die EU-Kommission KI-Systeme in der Bildung als hochriskant eingestuft.[35] Denn wer die Technik bestimmt, hat die Kontrolle und macht die Regeln.

Abschließend ist festzuhalten, dass das von der KMK propagierte Modell „Bildung in der digitalen Welt“ gleichzusetzen ist mit den digitalen „Bildungs“bestrebungen der Education Technology-Unternehmen und deren Geschäftsmodell. Damit ist die KMK „Türöffner“ für die „Steuerung der Lehr-Lernprozesse mit Künstlicher Intelligenz“, „Überwachungstechnologie“, „Datenkumulation und Ranking“ im Klassenzimmer.

Ist etwa eine Realisierung dieses „Bildungs“modells im Sinne unserer Schülerinnen und Schüler?

Oder anders gefragt: Wem nutzt es?

Beitrag als PDF-Datei


[1] KMK Onlinebeitrag, 9.12.2021: Die ergänzende Empfehlung zur Strategie „Bildung in der digitalen Welt“

[2] Tagesspiegel, 20.09.2021, Amory Burchard, Bildungsexperten warnen vor Rückkehr zum klassischen Frontalunterricht.

[3] Zum Forum gehören: Die Deutsche Telekom Stiftung, die Bertelsmann Stiftung, die Robert Bosch Stiftung, die Siemens Stiftung, die Dieter Schwarz Stiftung, die Joachim Herz Stiftung, die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft, die Stiftung Mercator und die Wübben Stiftung.

[4] Siehe auch: https://schulforum-berlin.de/die-bildungs-stiftungen-als-tueroeffner/

[5] Die Autoren des KMK-Beitrags werden nicht aufgeführt.

[6] Education Technology-Industry (EdTech-Industry) =  globaler Sektor digitaler Bildungstechnologien, der sich auf Unterrichtssoftware, Plattformen, Schulverwaltung und Steuerungsaufgaben bezieht.

[7] Tagesspiegel, 20.09.2021, Amory Burchard, Bildungsexperten warnen vor Rückkehr zum klassischen Frontalunterricht.

[8] KI Bildung Schlussbericht.pdf (telekom-stiftung.de) (S. 4). Siehe auch eine kritische Zusammenfassung: Künstliche Intelligenz in der Schule? | Schulforum-Berlin

[9] Die Fußnoten 9 bis 16 und 18 dienen der Begriffserklärung und sind im Original nicht enthalten:  Machine Learning ist ein Teilbereich der künstlichen Intelligenz (KI), der Systeme in die Lage versetzt, automatisch aus Erfahrungen (Daten) zu lernen und sich zu verbessern, ohne explizit programmiert zu sein. Es werden beispielsweise Regel- und Gesetzmäßigkeiten in den Daten erkannt und Aktionen daraus abgeleitet.

[10] Educational Data Mining ermöglicht, die im Zuge des „technologiebasierten“ Lernens anfallenden Unmengen an Daten – sei es zum Lernverhalten einzelner Schüler, dem Lernfortschritt der gesamten Klasse oder der Akzeptanz des Unterrichtskonzepts – zu ordnen und in Zusammenhang zu bringen, um sie für weitere Analysen und Prognosen zu nutzen. M. Ebner und S. Schön (Hrsg.)(2013): Einführung – Das Themenfeld „Lernen und Lehren mit Technologien“ | Ebner | Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien (tugraz.at)

[11] Learning Analytics hat die Interpretation der gesammelten Daten zum Ziel. Beim „technologiebasierten“ Lernen geht es darum, den individuellen Lernprozess zu optimieren. Dies geschieht nicht nur durch eine umfassende Abbildung des bisherigen Lernverhaltens, vielmehr sollen aus dem vorhandenen Datenbestand zugleich Erkenntnisse und Prognosen für die Zukunft abgeleitet werden.

[12] Assistenzsysteme umfassen alle Arten von Informationen, die einen Nutzer beim Gebrauch eines Produkts unterstützen.

[13] Assessment = Beurteilung, Bewertung der Fähigkeit, Einschätzung

[14] Grading = Bewertung, Benotung, Abstufung

[15] Tutoring = Methode der Lernunterstützung, bei welcher z.B. Peers als Co-Lehrende für Lernende tätig werden. Es soll Lernenden Selbstregulierung- und Kontrolle über ihr eigenes Lernen vermitteln.

[16] Classroom-Management, siehe nachfolgend im Text unter TALIS-Videostudie, „Gute Klassenführung“, S. 6.

[17] KI Bildung Schlussbericht.pdf (telekom-stiftung.de) (S. 37).

[18] Der Algorithmus umschreibt eine genau definierte Folge von Anweisungen (ersichtlich z.B. aus einem „Programmablaufplan“) mit denen ein bestimmtes Problem gelöst werden kann.

[19] Jürgen Zöllner, Impaktmagazin Spezial, 8/2021, Bildungspolitik in Zeiten der Pandemie …, S. 13-15

[20] Annina Förschler (2018): „Das ‚Who is who?‘ der deutschen Bildungs-Digitalisierungsagenda – eine kritische Politiknetzwerk-Analyse“. In: Pädagogische Korrespondenz, 58/18: S. 31-52. Siehe auch: Das „Who is who?“ der deutschen Bildungs-Digitalisierungsagenda | Schulforum-Berlin

[21] Krautz, Jochen, „Zur Erinnerung: Bildendes Lernen braucht Schule und Unterricht“

[22] Siehe dazu die Studie: Balslev, Jesper (2020): Evidence of a Potential. Eine Kernaussage: Das Hauptargument für die Digitalisierung ist das „geschätzte Potenzial“ das in der Digitalisierung steckt, die vermuteten, aber noch nicht wissenschaftlich belegten Vorteile.

[23] Ständige wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK), Stellungnahme zur Weiterentwicklung der KMK-Strategie „Bildung in der digitalen Welt“, Bonn/Berlin, 7.10.2021, S. 24

[24] Siehe dazu die Besprechung der Studien für Schulforum-Berlin: „Personalisiertes Lernen mit digitalen Medien. Ein roter Faden“ der Robert Bosch Stiftung (2018) sowie KI@Bildung – Lehren und Lernen in der Schule mit Werkzeugen Künstlicher Intelligenz – Schlussbericht – der Deutschen Telekom Stiftung (2021)

[25] Die Fußnoten 25 bis 27 dienen der Begriffserklärung und sind im Original nicht enthalten: Gamification ist die Übertragung von spieltypischen Elementen und Vorgängen in spielfremde Zusammenhänge mit dem Ziel der Verhaltensänderung und Motivationssteigerung bei Nutzern.

[26] Unter Augmented-Reality versteht man das Zusammenspiel von digitalem und analogem Leben. Das funktioniert manchmal über die Kamera des Smartphones aber zumeist über eine Brille. Über diese werden zusätzliche Informationen über das Umfeld des Nutzers eingeblendet.

[27] Virtual-Reality (VR) bezeichnet ein digitales, am Computer geschaffenes Abbild der Realität. VR-Brillen lassen den Nutzer in eine neue, künstlich erschaffene Welt eintauchen.

[28] Die TALIS-Videostudie Deutschland greift diese drei Basisdimensionen des Unterrichts auf, um Unterricht zu beschreiben und seine Wirkungen zu untersuchen. Sie ist die erste internationale Untersuchung, die einen Blick in Klassenzimmer auf drei Kontinenten wirft und zugleich Aussagen zu den Wirkungen des Unterrichts, zu Lernprozessen und Lernergebnissen der beteiligten Schüler*innen gestattet. Grünkorn, Juliane [Hrsg.]; Klieme, Eckhard [Hrsg.]; Praetorius, Anna-Katharina [Hrsg.]; Patrick Schreyer [Hrsg.]: Mathematikunterricht im internationalen Vergleich. Ergebnisse aus der TALIS-Videostudie Deutschland. Frankfurt am Main: DIPF, Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, 2020, S. 6.

Siehe auch die Kurzfassung: Mathematikunterricht im internationalen Vergleich. | Schulforum-Berlin

[29] Unter Change Management versteht man die systematische Planung und Steuerung von Veränderungen z. B. von Organisationsstrukturen oder Prozessen. (…) Zur Erhöhung der Akzeptanz werden insbesondere psychologische Faktoren berücksichtigt. (…) Ein Change Manager muss die Auswirkungen des Wandels abschätzen und zu erwartende und auftretende Widerstände identifizieren und gegensteuern. (…) Damit Veränderungsprojekte ernst genommen werden, müssen sie vom Willen zur Durchsetzung der Veränderung getragen sein. (…) Die Führungskräfte sind es, die die Beschäftigten „ins Boot holen“ müssen. (…) Bei Veränderungsvorhaben, die politisch vorgegeben werden, hat die Notwendigkeit zur Veränderung den Charakter eines Auftrages, der erfüllt werden muss. (…) Aus: Verwaltung innovativ – Change Management (verwaltung-innovativ.de). Siehe auch: Das Phänomen und die Praktiken des change-managements | Schulforum-Berlin

[30] Vgl. Bernd Schoepe, Cancel Culture macht Schule!, S. 10

[31] Jochen Krautz, Matthias Burchardt (Hrsg.) (2018): Time for Change? – Schule zischen demokratischem Bildungsauftrag und manipulativer Steuerung, S. 22

[32] Formative Diagnostik oder auch Lernverlaufsdiagnostik wird während des Lernprozesses regelmäßig eingesetzt, um den Lehr- und Lernprozesse zu steuern, zu begleiten oder auch zu optimieren.

[33] Monitoring ist die Überwachung, Messung, Erfassung eines Vorgangs oder Prozesses mittels technischer Hilfsmittel oder anderer Beobachtungssysteme.

[34] Vgl. Siegrid Hartong u.a. (2021): Unblack the Box, Anregungen für eine (selbst)bewusste Auseinandersetzung mit digitaler Bildung. In: Lankau, Ralf (Hrsg.): Autonom und mündig am Touchscreen, Weinheim und Basel: Beltz, S. 201 – 212.

[35] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.3.2022, Lisa Becker, „Wenn die neue Lehrkraft eine KI ist“.

Die „Bildungs“-Stiftungen als Türöffner

Perfektes Zusammenspiel

Manfred Fischer für Schulforum-Berlin

Geht es um die „Digitale Schule“, dann hebt der ehemalige Schulleiter Jacob Chammon, der die Deutsch-Skandinavische Gemeinschaftsschule in Berlin geleitet hat, eifrig die Hand, um Gehör zu finden. [1] Seit 1. April 2020 ist er als geschäftsführender Vorstand des Forum Bildung Digitalisierung tätig. Betrachtet man die Strategie der in diesem Forum zusammengefassten Stiftungen – darunter die Deutsche Telekom Stiftung, die Bertelsmann Stiftung, die Robert Bosch Stiftung, die Wübben Stiftung [2] – und die mit ihnen verbundenen Konzerne sowie deren Aktivitäten untereinander genauer [3], entdeckt man ein „perfektes Zusammenspiel: Die Stiftungen wirken wie ein Türöffner“. [4] So gibt das Forum „Empfehlungen, erarbeitet praktische Lösungen und leistet Orientierungshilfe für schulische Veränderungsprozesse.“ [5] Zu jeder sich ihnen bietenden Gelegenheit melden sich deren „Experten“ zu Wort, um ihre „revolutionierenden digitalen Bildungskonzepte“ voranzubringen. Ihre „Empfehlungen“ sind passgenau ausgerichtet an den Medien- und IT-Produkten der jeweiligen Technologieunternehmen im Hintergrund.

Administrativer Druck gefordert

Eine der „Orientierungshilfen“ zur Einführung „digitaler Tools“ führt sogar so weit, dass von den „Bildungsexperten“ gefordert wird, „mehr administrativen Druck auf die Schulen“ auszuüben. [6] Deutlich wird: Es geht darum, das „digitale Bildungskonzept“ der Stiftungen gewinnbringend für die Unternehmen an unseren Schulen umzusetzen – ganz ohne demokratische Kontrolle und öffentliche und fachwissenschaftliche Diskussion. Dazu äußert sich Josef Kraus, ehemaliger Präsident des Deutschen Lehrerverbands, mit einem exemplarischen Beispiel für das Vorgehen der Bildungsstiftungen: „Die Bertelsmann-Stiftung ist eine Krake, die sich jeder demokratischen Kontrolle entzieht.“ [7] Von den Akteuren wird vordergründig angegeben, sich für den Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler, für Teilhabe und Bildungsgerechtigkeit einzusetzen und den Lehrkräften wird versprochen, sie für wichtige pädagogische Aufgaben zu entlasten. Dies soll, so wird beschworen, mit Hilfe der verschiedensten „digitalen Tools“ möglich sein. [8]

Werbewirksame Produktbeschreibungen

Fakt zu den vielen Erfolgsversprechen der „segensreichen [!] Wirkung“ der „digitalen Tools“ ist: Es gibt keine kontrollierten Studien über die Lernwirksamkeit der digitalen Lernwerkzeuge. Auch fehlen Studien zu der Belastbarkeit, d.h. zur Glaubwürdigkeit der Aussagen zu den Lehr- und Lernprodukten. Die Erfolgsversprechen basieren auf Aussagen einzelner Akteure und Lobbyisten oder entspringen der werbewirksamen Produktbeschreibung der Hersteller. [9] Deutlich wird: Das Vorgehen der Akteure und die „Empfehlungen“ dienen der Verschleierung, z.B. von ideologischen oder ökonomischen Interessen.

Individuelle Bildung für alle im Tausch gegen Daten von jedem

Unberücksichtigt bleibt, dass die durch die „digitalen Tools“ vielfältig gesammelten Daten nicht nur bei Schulen, sondern – so gewollt – bei den Startups und Unternehmen landen. Vorgegeben wird, damit den individuellen Lernprozess der Schülerinnen und Schüler zu optimieren. Dazu bedarf es personenbezogener Daten, mehr Daten und noch mehr Daten – dem „Schmierstoff“ dieses digitalen Bildungsmodells. Das Geschäftsmodell lautet: „Individuelle Bildung für alle im Tausch gegen Daten von jedem“. [10]

Dieses „Geschäft“ mit unseren Schülerinnen und Schülern scheint dem ehemaligen Berliner Bildungssenator, Jürgen Zöllner, heute aktiv in der Wübben Stiftung, keine Kopfschmerzen zu bereiten, wenn er schreibt: „Datenschutz ist zum Kult geworden, der zum Selbstzweck mutiert“. Weiter führt er aus, dass „innovative Schulen mit ebensolchen Lehrkräften […] mit absurden bürokratischen und datenschutzrechtlichen Steinen, die ihnen in den Weg gelegt werden“ zu kämpfen hätten. [11] Heißt innovatives Vorgehen die Aussetzung eines Grundrechtes, der Grundlage unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft?

Dazu die Beauftragten für den Datenschutz und Informationsfreiheit Maja Smoltczyk (Berlin) und Dieter Kugelmann (Rheinland-Pfalz): „[W]enn Datenschützer:innen fordern, dass die Digitalisierung der Schulen datenschutzgerecht erfolgen muss, dient dies nicht der Verhinderung von Digitalisierung, […] es geht darum, für Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte einen geschützten Raum zu schaffen, in dem ihre Daten sicher sind, nicht missbraucht und irgendwann gegen sie verwendet werden“. [12] Auch ist einzubeziehen, dass die Schaffung einer den gesamten Bildungsweg durchziehenden, personenbezogenen, unkontrollierbaren Datensammlung erhebliche pädagogische und ethische Konsequenzen mit sich bringt. Zum jetzigen Zeitpunkt sind die damit einhergehenden Risiken kaum abschätzbar.

Design der Tools

Den Schulleitungen, Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern ist zu empfehlen, bei der Digitalisierungsstrategie ihrer Schule zu berücksichtigen, dass hinter jeder Lernsoftware, „hinter jeder digitalen Lernplattform, jeder App, jeder Schulverwaltungssoftware, eine bestimmte, zu einem programmierbaren Design verdichtete Idee von Schule, von Lernen oder Lernzuwachs, von SchülerInnen oder Lehrkräften“ steht. […] D.h. bei der „Nutzung eines Tools lassen sich die NutzerInnen automatisch auf eine bestimmte Sichtweise auf […] Bildung ein“ ohne zu wissen „wie Bildung und Lernen in der konkreten Software verstanden werden“ und ob diese mit den eigenen „Werten und Ideen von Lernen und Bildung zusammenpasst“. [13]

Ohne Kommentar

Als Fazit ist anzumerken, dass bei der Nutzung digitaler Lerntools durch die Schülerinnen und Schüler von den „Bildungsexperten“ die Vereinzelung beim Lernen, die Abschaffung des Unterrichts, die Auflösung der Klassengemeinschaft, der Verlust von Sozialkompetenzen, ja auch die Aussetzung eines Grundrechts kommentarlos hingenommen wird. Der Hype, der um die „Digitale Schule“ gemacht wird, ist gerade auch Schülerinnen und Schülern von sogenannten „Tabletklassen“ bewusst, die fordern:

Weniger bringt mehr!

[1] TSP, 22.09.2021, Amory Burchard, Digitale Schule „nach Corona“ – Bildungsexperten warnen vor Rückkehr zum klassischen Frontalunterricht (Titel in der Onlineausgabe)

[2] Es sind dies derzeit neun Stiftungen: Die Deutsche Telekom Stiftung, die Bertelsmann Stiftung, die Robert Bosch Stiftung, die Siemens Stiftung, die Dieter Schwarz Stiftung, die Joachim Herz Stiftung, die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft, die Stiftung Mercator und die Wübben Stiftung.

[3] Weitere Informationen:  Förschler, Annina (2018): Das „Who is Who?“ der deutschen Bildungs-Digitalisierungsagenda. In: Pädagogische Korrespondenz, Heft 58, 2018, S. 31-52. 

[4] Christian Füller (2016): Perfektes Zusammenspiel. In: GEW Landesverband Hamburg, Bildungspolitik, E&W 06/2016.   

[5] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/in-vielfalt-besser-lernen/projektnachrichten/lehrkraefte-plus-1-1

[6] Tagesspiegel, 22.09.2021, Amory Burchard, Digitale Schule „nach Corona“ – Bildungsexperten warnen vor Rückkehr zum klassischen Frontalunterricht (Titel in der Onlineausgabe)

[7] Die Bertelsmann-Stiftung, so Josef Kraus, ehemaliger Präsident des Deutschen Lehrerverbands, reduziere Bildung auf „Quantifizierbares“, um sie wirtschaftlich verwertbar zu machen – im Dienste des Bertelsmann-Konzerns: „Die Bertelsmann-Stiftung ist eine Krake, die sich jeder demokratischen Kontrolle entzieht.“

[8] Trendstudie „KI@Bildung“ (2021): „Lehren und Lernen in der Schule mit Werkzeugen Künstlicher Intelligenz“, S. 4. Die Studie war im Auftrag der Deutschen Telekom-Stiftung durchgeführt worden, veröffentlicht am 1.7.2021.

[9] Siehe dazu die Besprechung der Studien für Schulforum-Berlin: „Personalisiertes Lernen mit digitalen Medien. Ein roter Faden“ der Robert Bosch Stiftung (2018) sowie KI@Bildung – Lehren und Lernen in der Schule mit Werkzeugen Künstlicher Intelligenz – Schlussbericht – der Deutschen Telekom Stiftung (2021)

[10] Jörg Dräger, Ralph Müller-Eiselt (2018): Die digitale Bildungsrevolution, S. 24.

[11] Jürgen Zöllner, Impaktmagazin Spezial, Bildungspolitik in Zeiten der Pandemie ein Aufruf zum Aufbruch. Zöllner gehört dem Kuratorium der Wübben Stiftung an, formiert unter dem Dach des „Forum Bildung Digitalisierung“.

[12] Tagesspiegel, 5.2.2021, Dieter Kugelmann, Maja Smoltczyk, Datenschutz ist kein Supergrundrecht – Aber er ist ein Grundrecht. Onlineversion: Die billige Suche nach Sündenböcken löst keine Probleme„Schluss mit den Attacken auf den Datenschutz“

[13] Siegrid Hartong u.a. (2021): Unblack the Box, Anregungen für eine (selbst)bewusste Auseinandersetzung mit digitaler Bildung. In: Lankau, Ralf (Hrsg.): Autonom und mündig am Touchscreen, Weinheim und Basel: Beltz, S. 201 – 212.

Künstliche Intelligenz in der Schule?

Überwachungstechnologie in der Schule als
„Bildungskonzept“

„Skepsis gegenüber Versprechen von Künstlicher Intelligenz in der Bildung: Eine aktuelle Studie untersucht Risiken und Chancen der KI beim Lernen und Fördern.“

Besprechung der Trendstudie „KI@Bildung“ für Schulforum-Berlin[1]
Autor: Manfred Fischer


Mit der Überschrift „Kritischer Blick auf KI in der Schule“ machte „Der Tagesspiegel“ am 2.7.2021 in einem Beitrag[2] aufmerksam auf die am 1.7.2021 veröffentlichte Trendstudie „KI@Bildung“[3] mit dem Titel „Lehren und Lernen in der Schule mit Werkzeugen Künstlicher Intelligenz“. Die Studie war im Auftrag der Deutschen Telekom-Stiftung vom mmb Institut Gesellschaft für Medien und Kompetenzforschung in Essen durchgeführt worden.[4]

Neben der Online-Expertenbefragung[5] (40 Teilnehmer) wurde noch ein zweieinhalbstündiger Experten-Workshop mit dem Titel: „KI@Schule – Zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ veranstaltet. An diesem Workshop haben 20 Expertinnen und Experten – deren Auswahl mit der Deutschen Telekom Stiftung abgestimmt wurde[6] – teilgenommen. Von diesen zwanzig ausgesuchten Teilnehmern kamen sieben von der „Deutschen Telekom“ oder deren Stiftung.

Für diejenigen Teilnehmer aus der Online-Expertenbefragung, die mehr zum Thema „Künstliche Intelligenz und Schule“ erfahren wollten, wird ein Beitrag der „Initiative D21“[7] empfohlen.

Der Titel der Trendstudie „Lehren und Lernen in der Schule mit Werkzeugen Künstlicher Intelligenz“ lässt aufhorchen: Mitglieder aus dem „Akteurs-Netzwerk der Digitalisierungsagenda von Bildung“[8] stellen ihr „digitales Bildungskonzept“[9] für die zahlreichen Herausforderungen an unseren Schulen als „revolutionierend“ für die „Bildung“ dar. Zu dem Netzwerk zählen u.a. die „Deutsche Telekom“, die „Deutsche Telekom-Stiftung“ sowie die „Initiative D21“. Ein vertiefter Blick in die Studie ist angesagt!

Das „digitale Evangelium“

Bereits im ersten Absatz der Studie unter der Überschrift „Management Summary“ wird die Richtung und Absicht der Studie mit folgender Aussage deutlich: „KI-gestützte, lernförderliche Technologien, d.h. Lösungen, die auf Technologien wie Machine Learning, Educational Data Mining oder Learning Analytics basieren, bieten erhebliche Potenziale für alle Bereiche der schulischen Bildung“. […]

Educational Data Mining (EDM) ermöglicht, die im Zuge des „technologiebasierten“ Lernens anfallenden Unmengen an Daten – sei es zum Lernverhalten einzelner Schüler, dem Lernfortschritt der gesamten Klasse oder der Akzeptanz des Unterrichtskonzepts – zu ordnen und in Zusammenhang zu bringen, um sie für weitere Analysen und Prognosen zu nutzen (ausführlich M. Ebner und S. Schön (Hrsg.): Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien.)

Learning Analytics hat die Interpretation der gesammelten Daten zum Ziel. Beim „technologiebasierten“ Lernen geht es darum, den individuellen Lernprozess zu optimieren. Dies geschieht nicht nur durch eine umfassende Abbildung des bisherigen Lernverhaltens, vielmehr sollen aus dem vorhandenen Datenbestand zugleich Erkenntnisse und Prognosen für die Zukunft abgeleitet werden. (ausführlich M. Ebner und S. Schön (Hrsg.))

Neben der Makro-Ebene (Schul-Organisation) und der Meso-Ebene (Unterrichtsgeschehen) eröffnen vor allem „auf der Mikro-Ebene `intelligente´ Lernanwendungen – also für den Lernprozess selbst – vielfältige neue Möglichkeiten, indem individualisiertere Lernformen und Assistenzsysteme sowie automatisierte Leistungsbewertungen, Lernempfehlungen und Prognosen realisiert werden können.“ (S. 4)

Diese zusammenfassende Aussage wird von den weltweit agierenden Medien- und IT-Unternehmen im Bildungsbereich und deren konzernnahen Stiftungen immer wieder vorgetragen. So fordert Jörg Dräger, Mitglied des Vorstands der Bertelsmann-Stiftung eine, „Pädagogische Revolution“ um die digitalen Medien in den Schulen unterzubringen. Für die Unternehmen ist es ein milliardenschweres Geschäft![10]

Im „Diskurs“ mit sich selbst

Bereits im nächsten Absatz der Studie werden die „Erfolgsversprechen“ scheinbar relativiert. Erkenntnisse aus Forschungsbefunden aus Pädagogik, Neurowissenschaft, Lernpsychologie werden mit „Zweifel“ an den KI-gestützten Lerntechnologien beschrieben und herabsetzend als „Kritik“ dargestellt.

Die Verfasser schreiben:
„Aus Sicht der empirischen Bildungsforschung sowie der Lerntheorie werden jedoch auch immer wieder Zweifel an den Verheißungen KI-gestützter Lerntechnologien vorgebracht. Kritik macht sich u.a. an den zugrundeliegenden didaktischen Konzepten vermeintlich „intelligenter“ Lernanwendungen fest; auch sind die behaupteten lernfördernden Effekte KI-gestützter Anwendungen bislang zu wenig untersucht, und es fehlt generell an Evaluationen der verschiedenen Anwendungspotenziale (z.B. im Bereich des Automated Assessments und Gradings). Nicht zuletzt sind datenschutzrechtliche und ethische Fragestellungen gerade im Bereich der schulischen Bildung von vorrangiger Bedeutung.“ (S. 4)

Die zusammengefassten und unvollständig dargestellten Forschungsbefunde bleiben von den Autoren unberücksichtigt, denn für sie war bei der Auswahl der Lehr-/Lern-Produkte mit „Künstlicher Intelligenz“ ausschließlich die „Übertragbarkeit und Anwendbarkeit im deutschen Schul- und Bildungssystem“ von Bedeutung, d.h. der praktische Einsatz in unseren Schulen. Neben der Anwendung war auch der „Innovationsgrad“, d.h. der Markterfolg der „neuen“ Produkte für sie von Relevanz.[11] (S. 21, Hervorhebungen durch Schulforum-Berlin)

Unter der Überschrift: „Fragestellung“ wird an einem Beispiel erläutert, was die „Schülerinnen und Schüler“ in verschiedenen „KI-Szenarien“ zu erwarten haben:

Was jedem Zuschauer bei Fußball-TV-Übertragungen und Spielanalysen aus der „Sportschau“ bekannt ist, sind „ausführliche statistische Auswertungen“ des Spielverlaufs. Permanent erfasst und getrackt werden z.B. der „Ballbesitz“, „Antrittsgeschwindigkeit“ und „Laufstrecken“, „Passgenauigkeit“, „Schusswinkel“ und „Torschüsse“ sowie „Atemfrequenz und Fitness“. Das permanente Erfassen, Auswerten und Festhalten dieser Daten gelingt keinem Trainerteam. Möglich wird dies jedoch mit Hilfe von „Videoüberwachung, Wearables (körpernahen Sensoren) und automatischer Gesichtserkennung.“ (S. 7)

Die Berichterstatter der Trendstudie folgern daraus: „Was Startups […] für Fußball und andere Sportarten erfolgreich realisieren, findet selbstverständlich auch Eingang in den Bildungs- und Schulbereich, denn wieso sollte, was im Sport-Coaching funktioniert, nicht auch schulische Lernprozesse befördern?“ (S. 7) Soll hier schulische Bildung auf Quantifizierbares reduziert werden?

Überwachungstechnologie in der Schule

Wie das „Vermessen“ (z.B. Körpertemperatur, Gehirnströme, Puls- und Herzfrequenz, Augen- und Körperbewegungen etc.) der Schülerinnen und Schüler einer chinesischen Schulklasse bereits praktiziert wird[12], wird durch einen in der Studie angegebenen Videofilm[13] deutlich. (S. 7)

Screenshot aus Videofilm https://www.youtube.com/watch?v=JMLsHI8aV0g

Aus den gesammelten Daten sollen „Rückschlüsse auf Aufmerksamkeit, Verständnisprobleme und Konzentrationsstörungen“ gezogen werden, außerdem geht es auch darum, „künftige Leistungen oder Prüfungserfolge zu prognostizieren. […] [D]iese automatisch generierten Daten fließen ein in komplexe statistische Auswertungen und bilden die Grundlage für intelligente, selbstlernende Algorithmen („Machine Learning“) […]. Dies, so wird beschworen, ermögliche „eine Vielzahl von Anwendungen und Services rund um schulische Lernprozesse.“ (S. 7f)

Ziel der Marktanalyse, so die Verfasser der Studie, war es, „einen ersten systematischen Überblick über die im engeren Sinn „intelligenten“, d.h. KI-unterstützten Angebote zu geben, die überdies bereits als Produkte im Markt vorfindbar sind. […] Datengrundlage waren Deutsch- und Englischsprachige Webseiten und Texte.“ (S. 19)

In der Studie werden von den insgesamt 99 recherchierten und erfassten Anwendungen „fünf typische Beispiele für die Einsatzfelder steckbriefartig vorgestellt“. (S. 21)

Dies sind auf der
– Mikroebene („intelligente“ Lernanwendungen): Squirrel AI Learning von Squirrel, China und Bettermarks, Lernsystem für Mathematik aus Deutschland
– Mesoebene (Unterrichtsgeschehen): Knowledge Analysis Technology (KAT) von Pearson, USA und die Plattform für den Sprachunterricht, iFLYTEK, IT-Unternehmen, Spracherkennungssoftware, China
– Makroebene (Schul-Organisation): Watson Education Classroom von IBM, USA

Wirksamkeit und Belastbarkeit der Ed-Tech[14]-Produkte

Die Verfasser der Studie bemerken zu ihrer Arbeit: „Eine differenzierte Produktanalyse ist nicht intendiert.“ (Hervorhebung durch die Verfasser, S. 21) D.h., eine genaue und vertiefte Analyse der digitalen Ed-Tech-Produkte ist von den Verfassern der Studie nicht vorgenommen worden. Dieses „oberflächliche“ Betrachten der digitalen Produkte wird auch in der Beschreibung der fünf ausgewählten Applikationen deutlich.

Als Quellen für die Produktbeschreibung und -analyse werden die „Website des Unternehmens“ genannt, ein „Link zum Produktangebot“ sowie [Zeitungs-]„Berichte über Software und Unternehmen“ angegeben. (siehe Beispiele S. 22ff)

Es gibt in der Studie keine Angaben über die Wirksamkeit (Effektstärke) sowie die Belastbarkeit (Vertrauenswürdigkeit/Glaubwürdigkeit) der fünf beschriebenen digitalen Produkte und Lernwerkzeuge. Es gibt keine randomisierten kontrollierten Studien (randomised controlled trials, RCTs) über die Wirksamkeit/Lernwirksamkeit der ausgewählten Produkte.

Diese Feststellung wird in der Studie unter der Überschrift „Potentiale, Herausforderungen und Risiken“ bestätigt. Die Verfasser schreiben: Für die Forschungsveröffentlichungen liegen „jedoch noch keine Untersuchungen in großem Stil“ vor. „Insbesondere Data Mining-/ Machine Learning-basierte Verfahren müssen ihre Effektivität noch in großen Feldstudien beweisen.“ (S. 29)

Ein Blick auf „Squirrel AI Learning“

Die Verfasser der Studie verweisen auf „einige wenige KI-basierte Bildungstechnologien, die gut erforscht sind [!] und einen Effektivitätsgewinn [!] in Bezug auf Lernergebnisse zeigen.“ Hier wird z.B. auf „Berichte aus China von Squirrel Al“ hingewiesen. (S. 29) Als Basis für diese Aussage gelten nachfolgende Quellen für die Produktbeschreibung[15]:

Quellen
– Squirrel: Nr. 45 in der Rechercheliste
– Webeite des Unternehmens: http://squirrelai.com
– Berichte über Software und Unternehmen:
https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/schoenes-neues-lernen
http://secinfinity.net/china-begann-mit-kunstlicher-intelli-genz-statt-mit-lehrern-zu-unterrichten/
https://www.heise.de/hintergrund/4-4616136.html (S. 22)

Der CEO von Squirrel hat auf einer internationalen Startup- und Investorenkonferenz sein Produkt wie folgt beworben: „Angetrieben durch KI-Technologie wird die Lernmaschine eingesetzt, um viele Probleme in Chinas traditioneller Bildungsindustrie zu lösen, wie die ungleiche Verteilung von Bildungsressourcen und die geringe Lerneffizienz der Schüler. Die KI-Bildung wird sich schließlich zu einer personalisierten Bildung entwickeln und jedem Schüler eine eigene Lernlösung und einen KI Experten als Lehrer zur Verfügung stellen.“[16] (S. 22f)

Screenshot aus Website http://squirrelai.com

Alex Beard schreibt dazu: „Squirrel-Gründer Derek Li ist überzeugt, dass sie [die Unternehmen] das Bildungswesen, wie wir es kennen, grundlegend verändern werden. Überall auf der Welt schießen Unternehmen mit einem ähnlichen Ansatz aus dem Boden. Und nicht nur das: Immer mehr Geld fließt in den Bereich. Im Silicon Valley in den USA arbeiten Unternehmen wie „Knewton“[17] oder „ALTSchool“[18] [Altitude Learning] daran, das Lernen über Tablet-Computer zu personalisieren. In Indien hat sich „Byju’s“, eine Learning-App, die sechs Milliarden Dollar wert sein soll, die Unterstützung von Facebook und des chinesischen Internetgiganten Tencent gesichert.“[19]

Empfehlungen aus der Studie

Die Verfasser halten resümierend fest: Durch den starken Wettbewerb „mit chinesischen und amerikanischen Lerntechnologie-Anbietern [sollte] nicht nur stärker in Forschung und (Produkt-) Entwicklung investiert werden, sondern vor allen Dingen auch die praktische Erprobung und „Erdung“ dieser Technologien im Schulalltag ermöglicht […] werden.“ (S. 37)

Die „Strategie“ für das Vorgehen und das Unterbringen der „digitalen Bildungskonzepte mit künstlicher Intelligenz“ in der Schule wird aus der abschließenden Zusammenfassung deutlich:

„Es geht mithin um das ´Ineinander` bildungstechnologischer und didaktischer Prozesse und eine immer stärkere Verschränkung von autonomen [KI-gestützten Technologien wie Machine Learning, Educational Data Mining oder Learning Analytics], technologiebasierten Lernphasen einerseits und sozialen Lernprozessen im Unterricht andererseits.“ (S. 39) Verschleiernd wird von den Autoren noch der Hinweis auf die „sozialen Lernprozesse im Unterricht“ angehängt.

Fazit:

Ziel von Bildungspolitik kann nicht sein, privatwirtschaftlichen EdTech-Unternehmen zu ermöglichen, ihr gewinnbringendes „digitales Bildungskonzept“ an unseren Schulen umzusetzen[20] – ganz ohne demokratische Kontrolle[21] und öffentliche Diskussion, aber mit vielen Erfolgsversprechen! Dieses Vorgehen der Akteure dient der Verschleierung, z.B. von ideologischen oder ökonomischen Interessen, und schafft bewusst Verwirrung.[22]

Entscheidend bei der Auswahl von Lehr- und Lernmitteln – egal ob digital oder analog – kann nur sein, was die Wissenschaft als essenziell für das Lernen erforscht hat, wie auf dieser Grundlage Schule und Unterricht zu gestalten sind und wofür der Begriff „Bildung“ in unserer Gesellschaft steht.[23]

In der Gesamtschau der Trendstudie wird deutlich, dass deren Verfasser „Chinesische Verhältnisse“ und „künstliche Intelligenz“ für eine Alternative im Klassenzimmer halten![24] Es ist offensichtlich, dass der Einsatz von “künstlicher Intelligenz“ im Unterricht von den Autoren als mögliche „Steuerung der Lehr- Lernprozesse“ gesehen wird: Big Brother is teaching you! Das Vorgehen wird zu einem „innovativen Ansatz“,[25] ohne wissenschaftliche Belege, hochstilisiert! Die Abschaffung des Unterrichts, die Auflösung der Klassengemeinschaft, die Vereinzelung beim Lernen, der Verlust von Sozialkompetenzen wird kommentarlos hingenommen. Die Beziehung und Empathie im Lernprozess wird durch „Überwachungstechnologie“ und „Ranking“ ersetzt.

Gerade bei als „innovativ“, „revolutionär“ oder „alternativlos“ beschriebenen digitalen und technologiebasierten Ansätzen im Bildungsbereich müssen die zuständigen Ministerien, Schulleitungen, Lehrkräfte und Eltern und gerade auch die Schülerinnen und Schüler sich die Frage stellen:

Wer steckt dahinter, welche Netzwerke sind hier aktiv, was sind deren Absichten, wer sind die Profiteure – kurz:
Wem nutzt es?

In diesem Sinne nimmt Marc Mattiesson, Lehrer am Städtischen Gymnasium Wermelskirchen, Stellung zum manipulativen Vorgehen der Akteure: Wir Lehrerinnen und Lehrer sind aufgerufen die „neoliberalen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Grundlagen unserer Arbeit mitzudenken. Nur so können wir verhindern, dass unser soziales Engagement für unsere Schülerinnen und Schüler instrumentalisiert wird. Voraussetzung dafür bleibt, dass wir insbesondere in Krisenzeiten wohlklingende Begriffe, forcierte Entwicklungen und uns als alternativlos präsentierte einfache Lösungen kritisch in den Blick nehmen. Sozialer Spaltung im Bildungssystem werden wir erst wieder etwas entgegenzusetzen haben, wenn Etikettenschwindel nicht mehr Schule machen kann.“[26]

Künstliche Intelligenz in der Schule? als PDF-Datei

Literatur zur Vertiefung:

Förschler, Annina (2018): Das „Who is Who?“ der deutschen Bildungs-Digitalisierungsagenda. In: Pädagogische Korrespondenz, Heft 58, 2018, S. 31-52.

Krautz, Jochen (2020): Digitalisierung als Gegenstand und Medium von Unterricht. Keine digitale Transformation von Schule. GBW-Flugschriften Nr. 1, Köln 2020

Lankau, Ralf (2020): Alternative IT-Infrastruktur für Schule und Unterricht. GBW-Flugschriften Nr. 2, Köln 2020


Anmerkungen:

[1] Das Schulforum-Berlin ist eine nichtkommerzielle und unabhängige Website unter Mitwirkung von Lehrkräften verschiedener Berliner Schulen. Schulforum-Berlin
[2] Tagesspiegel, 2.7.2021, Katharina Schneider, Lernhilfen und Leistungsanalysen – Kritischer Blick auf KI in der Schule
[3] KI@Bildung: Lehren und Lernen in der Schule mit Werkzeugen Künstlicher Intelligenz – Schlussbericht –
[4] Das „mmb Institut – Gesellschaft für Medien und Kompetenzforschung mbH“ versteht sich als Denkwerkstatt und Impulsgeber für die Innovation von Bildung und Lernen. Sie schreiben auf ihrer Website: „Die Digitalisierung der Bildung eröffnet vielfältige Chancen für neue Bildungsprodukte, Technologien und Unternehmen. Unerlässlich sind jedoch belastbare Informationen zu Marktpotenzialen und Markteintrittshürden, zu Trends und Zielgruppen.“
[5] Aus dem Einführungstext der Befragung: „Um die aktuelle Situation besser einschätzen zu können, möchten wir gerne Ihre Sichtweise und Meinung zu diesem Thema kennenlernen. Dabei geht es einerseits um Ihre Bewertung der didaktischen Potenziale und Herausforderungen, andererseits aber auch um die Frage, welche Rolle KI in der Schulorganisation spielen könnte. Wir würden uns freuen, wenn Sie sich etwa 10 Minuten Zeit nehmen könnten, um die folgenden Fragen zu dieser Thematik zu bewerten.“
[6] Eine Teilnehmerin war vom „Schulministerium NRW, Referat 412: Lehren und Lernen in der Digitalen Welt, Medienberatung, Lernmittel“. (S. 58)
[7] Zu den Aktivitäten der „Initiative D21“ schreibt Förschler: „2013 brachten die Bertelsmann Stiftung mit drei Gesprächsrunden im Rahmen ihres „Education Innovation Circle“ sowie die Initiative D21 mit ihrer seit 2013 jährlich erscheinenden Studie „D21-Digital-Index“ zum „Lagebild der digitalen Gesellschaft“ (unter anderem in Kooperation mit Google und Texas Instruments) weitere Dynamik in den Diskurs um digitale Bildung.“ Aus: Förschler, Annina (2018): Das „Who is Who?“ der deutschen Bildungs-Digitalisierungsagenda. In: Pädagogische Korrespondenz, Heft 58, 2018, S. 39. Anzumerken ist: Die „Telekom“ nimmt auch einen Sitz im Gesamtvorstand der „Initiative D21“ ein.
[8] ebd.: Förschler stellt die politischen Aktivitäten sowie die Verbindungen und Aktivitäten (neuer) intermediärer Akteure (NROs, NGOs, Wissenschaftliche Institute, Stiftungen, Vereine, For-Profit-Unternehmen) in Richtung Datafizierung und Digitalisierung von Bildung dar.
[9] ebd.: „[E]s ist kritisch anzumerken, dass die Bezeichnung „digitale Bildung“ irreführend ist und eher als positiv konnotiertes, euphemistisches Synonym für die Einführung digitaler Lehr- und Lernmittel sowie das Forcieren digitaler Kompetenzen im Diskurs genutzt wird.“ (Fußnote S. 32)
[10] Wiederholt und in aggressiver Form versuchen dies auch Vertreter der Bertelsmann-Stiftung für den weltweit agierenden Bertelsmann Konzern. So fordert Jörg Dräger, Mitglied des Vorstands der Bertelsmann-Stiftung, eine „Pädagogische Revolution“ um die digitalen Medien in den Schulen unterzubringen. Die „Bildungskonzepte“ der Akteure als Experiment an den Schülerinnen und Schülern. Siehe auch: „Perfektes Zusammenspiel“ – Die Bertelsmann Stiftung wirbt intensiv für die Digitalisierung in Schulen und Hochschulen. Das passt perfekt in die Strategie des gleichnamigen Konzerns: Das Bildungsgeschäft ist seine neue „Cash-Kuh“, Christian Füller.
[11] Eine vergleichbare verwirrende Vorgehensweise in der Studienpräsentation wird auch bei der Studie: „Personalisiertes Lernen mit digitalen Medien. Ein roter Faden.“ der Robert Bosch Stiftung (2018) deutlich.
[12] Siehe: Schulen in China – Totale Überwachung mit Künstlicher Intelligenz | Schulforum-Berlin
[13] Siehe: Überwachungstechnologie in der Schule
[14] EdTech = Education Technology, globaler Sektor digitaler Bildungstechnologien, der sich nicht nur auf Unterrichtssoftware, sondern ebenso auf Plattformen, Schulverwaltung und/oder Steuerungsaufgaben bezieht. Siehe Sigrid Hartung, http://denk-doch-mal.de/wp/sigrid-hartong-algorithmisierung-von-bildung/
[15] Für die anderen Produktbeschreibungen ist die Vorgehensweise analog.
[16] Derek Li, der Gründer von Squirrel AI Learning, beschloss, seine Lehrkräfte durch einen unermüdlichen, perfekten, virtuellen Lehrer zu ergänzen: „Stellen Sie sich einen Kursleiter vor, der alles weiß – auch über Sie.“ Aus: der Freitag, Schönes neues Lernen–Können Computer das Klassenzimmer ersetzen? Weltweit arbeiten Firmen daran – Überwachung der Schüler inklusive, von Alex Beard, Ausgabe 21/2020
[17] „Knewton durchleuchtet jeden, der das Lernprogramm nutzt. Die Software beobachtet und speichert minutiös, was, wie und in welchem Tempo ein Schüler lernt. Jede Reaktion des Nutzers, jeder Mausklick und jeder Tastenanschlag, jede richtige und jede falsche Antwort, jeder Seitenaufruf und jeder Abbruch wird erfasst. `Jeden Tag sammeln wir tausende von Datenpunkten von jedem Schüler´, sagt Ferreira [Co-Founder & CEO von Knewton] stolz. Diese Daten werden analysiert und zur Optimierung der persönlichen Lernwege genutzt.“ Dräger, Jörg/Müller-Eiselt, Ralph (2018): Die digitale Bildungsrevolution. München, S. 24f.
[18] Bei der ALTSchool-Open-Plattform „lässt sich nicht überprüfen, wie die Algorithmen der künstlichen Intelligenz die Playlists der Schüler*innen erstellen und steuern. Ebenso bleibt offen, wie genau die Playlists die Entscheidungen und den Lernfortschritt der Lernenden unterstützen. Die Verwendung wandmontierter Kameras zur Aufzeichnung sämtlicher Aktivitäten im Klassenzimmer wirft zudem datenschutzrechtliche und ethische Fragen auf. Beispielsweise steht die Frage im Raum, inwieweit eine solche digitale Überwachung soziale Ungleichheiten verstärken könnte.“ Aus: Holmes, W., Anastopoulou S., Schaumburg, H. & Mavrikis, M. (2018): Personalisiertes Lernen mit digitalen Medien. Ein roter Faden, Stuttgart, Robert Bosch Stiftung, S. 66
[19] Aus: der Freitag, Schönes neues Lernen–Können Computer das Klassenzimmer ersetzen? Weltweit arbeiten Firmen daran – Überwachung der Schüler inklusive, von Alex Beard, Ausgabe 21/2020
[20] Schul-Digital-Pakt: Bildungs-Stiftungen planen den „Systemwechsel“ – Ihr Geschäft ist die Digitalisierung
[21] Die Bertelsmann-Stiftung, so Josef Kraus, ehemaliger Präsident des Deutschen Lehrerverbands, reduziere Bildung auf „Quantifizierbares“, um sie wirtschaftlich verwertbar zu machen – im Dienste des Bertelsmann-Konzerns: „Die Bertelsmann-Stiftung ist eine Krake, die sich jeder demokratischen Kontrolle entzieht.“ Weiter Informationen unter: „Bildung“ ist ihr Geschäft! | Schulforum-Berlin
[22] Siehe Kommentar zum Forschungsbericht „Personalisiertes Lernen mit digitalen Medien. Ein roter Faden“ der Robert Bosch Stiftung in der FAZ vom 30.08.2018, Dr. Hannah Bethke, Berlin, „Digital unterstütztes Lernen:  Hundertzwanzig Seiten Verblödungslektüre.“
[23] Krautz, Jochen (2021): Worum es geht – und worum nicht. In: Lankau, Ralf (Hrsg.): Autonom und mündig am Touchscreen, Weinheim und Basel: Beltz, S. 153-167.
[24] Man erinnere sich an die eingangs zitierte Aussage in der Studie: „KI-gestützte, lernförderliche Technologien, d.h. Lösungen, die auf Technologien wie Machine Learning, Educational Data Mining oder Learning Analytics basieren, bieten erhebliche Potenziale für alle Bereiche der schulischen Bildung“. (S. 4)
[25] Für die Verfasser der Studie war für die Auswahl der Applikationen „neben der Übertragbarkeit und Anwendbarkeit im deutschen Schul- und Bildungssystem auch der Innovationsgrad“ von Bedeutung. (S. 21)
[26] Streitschrift veröffentlicht auf der Website der Gesellschaft für Bildung und Wissen (GBW), Marc Mattiesson: „Die Geister die wir rufen…“ – Bildungspolitik und soziale Spaltung, S.13

LESEN IM 21. JAHRHUNDERT

21 Prozent der deutschen Schülerinnen und Schüler sind nicht in der Lage, sinnentnehmend zu lesen. 

Lesekompetenzen in einer digitalen Welt. Deutschlandspezifische Ergebnisse des PISA-Berichts „21st-century readers“

Anlass für die genauere Betrachtung der oben genannten Studie war der Leitartikel in der Printausgabe des Tagesspiegels vom 5.5.2021 mit der Überschrift: „Schule digital – Die große Leere in der Lehre“ [1] von Anke Myrrhe.

Manfred Fischer für Schulforum-Berlin

Sie eröffnet ihren Kommentar mit dem Hinweis auf eine dauerhafte Schockstarre nach den Pisa- Bildungsstudien, kommt auf die soeben veröffentlichte Pisa-Sonderauswertung „Lesekompetenz in einer digitalen Welt“ und findet, dass die Meldung „Jugendliche in Deutschland fühlen sich digital schlecht unterrichtet“ zu wenig „Schlagzeilen“ mache. Um dies zu untermauern führt sie an, dass „die stetige Kreidezufuhr an vielen Schulen wesentlich wichtiger war als der Breitbandausbau.“

Sie befürchtet, dass es „nach mehr als einem Jahr Ausnahmezustand weiterhin heißen [wird]: frontal, live und mit viel Kreide.“ Die „Chance für eine andere Art der Bildung“, so ihre Erkenntnis, wurde wieder einmal „verpasst“ – „eine digitale Revolution an den Schulen“ bleibt aus. Was sie unter „Bildung“ versteht lässt sie offen – weist aber noch auf „innovative Konzepte, tolle Projekte und fantastisch funktionierenden Digitalunterricht“ hin. Diese „Message“ könnten die Vertreter der IT- und Medienindustrie, deren Lobbyisten und die Sprecher der konzernnahen Stiftungen nicht besser in die Welt setzen.

Für den Pädagogen wird deutlich: Anke Myrrhe hatte mit ihren Aussagen nicht die Schüler im Auge sondern vertritt in euphemistischer Weise die Interessen der IT- und Medienindustrie. Für diese ist die „Digitalisierung der Bildung“ ein milliardenschweres Geschäft, welches als gewinnbringendes „Bildungskonzept“ an unseren Schulen umgesetzt werden soll. Sie verkaufen ihre digitalen Lehr- und Lernprodukte als Lösung für Probleme, zu deren Verschärfung sie beitragen.

Mittlerweile sehen auch Schüler, dass es bei dem Hype: „Digitalisierung der Schule“ nur vordergründig um Lernförderung geht. Die Auswirkungen der Vereinzelung beim individuellen Lernen, der Frontalunterricht vor dem Bildschirm, das Fehlen einer empathischen Resonanz, die Auflösung der Klassengemeinschaft sowie die unkontrollierbare Nutzung und weitere Verwertung ihrer gespeicherten Daten, werden von den Akteuren bewusst verschleiert.

Was Anke Myrrhe bei ihrer „Digitaleuphorie“ verschweigt und übergeht sind die Ergebnisse aus der von ihr erwähnten Pisa-Sonderauswertung „Lesekompetenz in einer digitalen Welt“.

Dieser zufolge hat sich die Internetnutzung der 15-Jährigen im OECD-Raum zwischen 2012 und 2018 von 21 auf 35 Stunden wöchentlich erhöht.

2018 entsprach die Internetnutzung der 15-Jährigen fast der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit eines Erwachsenen im OECD-Raum. (S. 4)

Festgestellt wurde ein negativer Zusammenhang zwischen den Schülerleistungen im Bereich Lesekompetenz und der Nutzungsdauer digitaler Geräte für schulische Zwecke. In Deutsch­land war dieser negative Zusammenhang am stärksten ausgeprägt. (S. 6)

Weiter wurde berichtet, dass die Freude der Schüler*innen am Lesen deutlich abge­nommen hat. Der stärkste Rückgang war in Deutschland, Finnland und Norwegen zu beobachten. Der Anteil der Schüler*innen in Deutschland, die Eigenangaben zufolge nur dann lesen, wenn sie müssen, war in PISA 2018 beispiels­weise um 11 Prozentpunkte höher als in PISA 2009. (S.7)

Rund 21 % der Schüler*innen in Deutschland erreichen im Bereich Lesekompetenz nicht das für ein selbstbestimmtes Leben und die Teilhabe an der Gesellschaft erforderliche Mindestniveau. (S. 17)

Aus den Ergebnissen nach sieben PISA-Runden und vier IGLU-Runden ist aus allen Studien zu entnehmen, dass die Leseförderung in Deutschland sowohl in der Primar- als auch in der Sekundarstufe dringend ausgebaut werden muss. Außerdem ist es notwendig, schwachen Leistungen im Bereich Lesekompetenz bereits ab dem Vorschulalter und über die ganze Schulzeit hinweg vorzubeugen. (S. 17)

Nichts von all dem im Kommentar von Anke Myrrhe.

Texthervorhebung in den grau unterlegten Einschüben durch Schulforum-Berlin.


Zur Erinnerung: Die Studie wurde finanziert von der Vodafon Stiftung.

[1] In der Onlineversion lautet die Überschrift: „Warum der Präsenzunterricht als oberstes Ziel falsch ist“. Die verpasste Revolution: Die Pandemie-Zeit wäre eine Chance gewesen für eine andere Art der Bildung. 

Siehe auch die Stellungnahme von Robert Rauh im Tagesspiegel vom 11.05.2021: „Der Präsenzunterricht als oberstes Ziel bleibt richtig“.

Siehe auch: FAZ, 20.05.2021, Heike Schmoll, Kein Glück beim Lesen – Deutsche Jugendliche sind viel im Internet unterwegs. Ihnen fehlt aber die Orientierung

Digitalisierung und Individualisierung: Eine unheilige Allianz, die Bildung verhindert

Schon vor der Corona-Krise machte sich in den Schulen der Trend breit, dem Problem der Heterogenität der Schülerschaft durch sog. „Individualisierung“ begegnen zu wollen. Man löst die Klassengemeinschaft faktisch auf und versorgt jede Schülerin, jeden Schüler mit differenzierten Arbeitsaufträgen, die sie „selbstgesteuert“ bearbeiten sollen.

Jochen Krautz

Prof. Dr. Jochen Krautz, Bergische Universität Wuppertal, ist Präsident der Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.

Die durch die Corona-Krise beschleunigte Digitalisierung scheint das nun noch einfacher zu machen: Nun kann jeder „individuell“ und „selbstgesteuert“ an seinem Gerät arbeiten, ob zuhause oder in der Schule. Beides untergräbt aber die Aufgabe der Schule und gefährdet den verfassungsgemäßen Bildungsauftrag. Warum ist das so?

Dazu 7 knappe Thesen:

1. Stärkung der Lehrperson statt „Lernbegleitung“.

Heterogenität ist nichts Neues, sondern selbstverständlich. Sie wird nicht durch Auflösen der Lerngruppen und Absenken der Ansprüche gelöst, sondern durch Stärken der Klassengemeinschaft und indem man Schwächere an höhere Levels heranführt. Das aber braucht eine Lehrperson, die die Klasse erzieherisch und fachlich führt. Also das genaue Gegenteil des Trends zum „Lernbegleiter“ (vgl. beispielhaft und konkret Rudolph/Leinemann 2021).

2. „Selbststeuerung“ ist nicht Selbstständigkeit.

Wer nur Arbeitsaufträge von Lernsoftware oder Arbeitsblättern ausführt, entwickelt nicht Selbstständigkeit. Vielmehr steuert er sich nur selbst gemäß den Vorgaben von außen. Er lernt sich anzupassen, nicht aber selbstständig zu denken und zu argumentieren. Dazu braucht es ein lebendiges und interessiertes menschliches Gegenüber – also Lehrpersonen und Mitschülerinnen und -schüler. Anpassung aber widerspricht dem Bildungsauftrag der Verfassungen, der auf Mündigkeit zielt.

3. „Individualisierung“ ergibt nicht Individualität.

Daher bildet äußere „Individualisierung“ gerade nicht Individualität, sondern fördert Konformität. Um ein individuelles Selbst zu werden, brauchen junge Menschen sozialen Kontakt, Austausch, Widerspruch und gemeinsam zu bewältigende Herausforderungen. Doch: Die Bildung von Individualität ist pädagogisch herausfordernd, weil Lehrpersonen den Kindern und Jugendlichen als ganze Menschen gegenübertreten müssen, nicht nur als Verwalter von Lernprozessen.

4. Digitalisierung ist Frontalunterricht der üblen Sorte.

Gerne grenzen sich Befürworter von „digitalem“ und „selbstgesteuertem Lernen“ vom „Frontalunterricht“ ab. Tatsächlich ist digitales oder analoges „selbstgesteuertes Lernen“ Frontalunterricht in übler Reinform, wie er sonst kaum noch vorkommt. Das Arbeitsblatt und der Algorithmus antworten mir nicht, diskutieren nicht, nehmen mich nicht wahr, haben kein Sachverständnis, wissen nicht, was Bildung ist, kennen keine Didaktik und haben keine pädagogische Empathie. Sie regieren über die Köpfe der Schülerinnen und Schüler hinweg – oder besser: in sie hinein.

5. Digitalisierung beruht auf Lobbyarbeit.

Die angeblich „alternativlose“ Digitalisierung der Schulen hat keine pädagogischen Gründe, sondern banale ökonomische. Sie beruht auf massiver Lobbyarbeit von IT-Industrie und deren Adepten. In der Krisenlage rund um Corona haben Politik, Medien, Eltern und viele Pädagoginnen und Pädagogen die inszenierte Hysterie noch verstärkt. Doch wird Digitalisierung keine pädagogischen Probleme lösen, Unterricht wird dadurch nicht automatisch besser. Vielmehr braucht die sinnvolle Integration der Digitalisierung in die Aufgaben der Schule sehr genaues und klares pädagogisches, didaktisches und fachdidaktisches Denken (vgl. Krautz 2020).

6. Neoliberalismus und Reformpädagogik feiern Hochzeit.

Warum aber ist das dann alles so beliebt und scheint so modern? Hier verbinden sich zwei ältere Diskurslinien: Reformpädagogischem Denken entstammt die Meinung oder auch nur das unbewusste Gefühl, dass die Kinder sich doch lieber „frei entfalten“ sollen. Lehren sei irgendwie freiheitswidrig, die Gehalte und Anforderungen unserer Kultur würden die kindliche „Natürlichkeit“ negativ beeinflussen. Neoliberalem Denken entstammt die Idee, Lernende seien „Unternehmer ihrer selbst“ und würden in den „Lernlandschaften“, die aussehen wie Großraumbüros, die „Skills“ und „Kompetenzen“ erwerben, die sie als flexible und anpassungsfähige Arbeitskräfte bräuchten. Beides ist sachlich falsch und antipädagogisch gedacht. Beides lässt die Heranwachsenden faktisch im Stich: Einmal werden sie sich selbst überlassen, einmal den Anpassungsimperativen der neoliberalen Ökonomie (vgl. Krautz 2017).

7. Pädagogische Verantwortung ernst nehmen.

Was ist der Ausblick? Pädagogische Verantwortung wahrzunehmen und wieder zu lehren, zu lernen, zu erziehen und zu bilden. Das ist anstrengend, gewiss. Aber wenn wir uns diesen Fragen wieder mit gemeinsamer Kraft zuwenden würden, statt mit haltlosen Konzepten an Kindern und Jugendlichen zu experimentieren, könnten wir diesen und uns selbst das absehbare und bittere Scheitern ersparen.

Zur Vertiefung

Burchardt, Matthias: Zwischen Arbeitsblatt und Bildschirm. Neue Lernkultur oder Kaspar-Hauser-Pädagogik? In: Das Gymnasium in Rheinland-Pfalz, H. 1/2018, S.6-12, https://www.philologenverband.de/fileadmin/user_upload/Das_Gymnasium/Gymnasium_in_Rh-Pf_1-2018__JR__Endgueltig.pdf.

Gruschka, Andreas: Der Bildungs-Rat der Gesellschaft für Bildung und Wissen. Opladen2015, www.bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2015/06/gruschka_bildundgs_rat.pdf.

Krautz, Jochen: Neoliberaler Ökologismus. „Markt“ und „Natur“ als Steuerungsparadigmen der „Neuen Lernkultur“. In: Burchardt, Matthias/Molzberger, Rita (Hrsg.): Bildung im Widerstand. Festschrift für Ursula Frost. Würzburg 2017, S. 121-146.

Krautz, Jochen: Digitalisierung als Gegenstand und Medium von Unterricht. Keine digitale Transformation von Schule. GBW-Flugschriften Nr. 1. Köln 2020, https://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2020/10/krautz_flugschrift_digitalisierung.pdf.

Lankau, Ralf: Alternative IT-Infrastruktur für Schule und Unterricht. Wie man digitale Medientechnik zur Emanzipation und Förderung der Autonomie des Menschen einsetzt, statt sich von IT-Systemen und Algorithmen steuern zu lassen. GBW-Flugschriften Nr. 2. Köln2020, https://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2020/09/lankau_flugschrift_web.pdf.

Türcke, Christoph: Lehrerdämmerung. Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet. München 2016.

Rudolph, Michael/Leinemann, Susanne: Wahnsinn Schule. Was sich dringend ändern muss. Berlin 2021.

Winterhoff, Michael: Deutschland verdummt. Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut. Gütersloh 2019.

Der Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin. Texthervorhebung in den grau unterlegten Einschüben durch Schulforum-Berlin.

Beitrag als PDF-Datei: https://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2021/03/Krautz-Digitalisierung-und-Individualisierung.pdf