Archiv der Kategorie: Schule und Kompetenzen

Gemeinsam ein Kinderbuch anschauen

Kinderbücher können die emotionale und sprachliche Kompetenz von Kindern wirksam fördern

Anna Mildenberger, ifak-kindermedien.de/theorie-und-praxis, 20. Mai 2025

Emotionen spielen eine zentrale Rolle in der Entwicklung von Kindern. Besonders in den ersten Lebensjahren lernen Kinder durch Beobachten, Erleben und Nachahmen von Gefühlen, wie sie ihre eigenen Emotionen erkennen, benennen und regulieren können. Kinderbücher sind ein wertvolles Werkzeug, um diesen Lernprozess zu unterstützen. Sie erzählen nicht nur spannende Geschichten, sondern bieten auch zahlreiche Gelegenheiten, um emotionale Kompetenzen zu entwickeln. In diesem Artikel betrachten wir, wie Kinderbücher Emotionen thematisieren und die emotionale Entwicklung von Kindern fördern können.

Entwicklung der emotionalen Fähigkeiten

Emotionen sind komplexe Reaktionen, die aus einem Gefühl, einem Auslöser, einer Bewertung, einer körperlichen Reaktion und einem Emotionsausdruck bestehen. Sie beeinflussen unser Verhalten, steuern Interaktionen und wirken sich auf unser Denken aus. 

Das emotionale Lernen beginnt bereits vor der Geburt und entwickelt sich während der gesamten Kindheit weiter. Die größten Fortschritte macht das Kind jedoch in den ersten sechs Lebensjahren, in denen es wichtige emotionale Fähigkeiten wie den Ausdruck, das Verständnis und die Regulation von Gefühlen erlernt.

Im ersten Jahr entwickelt das Kind erste Emotionen wie Freude, Angst und Ärger. Es lernt, diese durch Mimik und Lautäußerungen auszudrücken und zeigt erste Empathie, indem es auf die Emotionen anderer reagiert. Es zeigt erste Ansätze zur Selbstberuhigung, benötigt jedoch Unterstützung von vertrauten Bezugspersonen.

Im zweiten Lebensjahr wird der Emotionsausdruck mit der Entwicklung der Sprache facettenreicher. Das Kind verwendet erste Worte für Emotionen und versteht zunehmend, dass Gefühle von inneren Wünschen und Zielen abhängen. Es entwickelt erste Selbstberuhigungsstrategien und zeigt erste egozentrische Empathie.

Kinder im dritten Lebensjahr lernen, zwischen dem inneren Erleben von Gefühlen und ihrem sichtbaren Ausdruck zu unterscheiden. Sie erkennen zunehmend, dass Mimik nicht immer das wahre Empfinden zeigt. Sie lernen, Emotionen als subjektive Erfahrungen zu verstehen und beginnen, erste Perspektivenwechsel vorzunehmen.

Im Kindergartenalter erweitern Kinder ihr Emotionsvokabular und entwickeln ein besseres Verständnis für die Emotionen anderer. Sie lernen, soziale Regeln für den Emotionsausdruck zu befolgen und entwickeln zunehmend die Fähigkeit zur Empathie, indem sie zwischen den Gefühlen anderer und ihren eigenen differenzieren.

Vorschulkinder haben ein vielseitiges Verständnis für Emotionen und beginnen, ihren Emotionsausdruck bewusst zu kontrollieren. Sie können Emotionen strategisch vortäuschen oder verbergen, um unerwünschte Reaktionen bei anderen zu vermeiden. Ihre Empathiefähigkeit vertieft sich weiter, indem sie die Emotionen anderer besser in Kontext setzen können.

In jedem dieser Jahre macht das Kind wichtige Fortschritte in seiner emotionalen Entwicklung – eine wichtige Grundlage für den späteren Umgang mit sich selbst und anderen.

Wie Kinderbücher Emotionen vermitteln

Kinderbücher bieten eine breite Palette an Emotionen, von Freude, Traurigkeit und Angst bis hin zu Wut, Scham und Stolz. Sie stellen Situationen dar, in denen Charaktere mit verschiedenen Emotionen konfrontiert sind, und zeigen, wie sie mit diesen Gefühlen und den damit verbundenen Herausforderungen umgehen. Geschichten, in denen Charaktere diese Emotionen erleben, vermitteln den Leser*innen, dass all diese Gefühle normal und Teil des menschlichen Lebens sind. Besonders hilfreich sind Bücher, die den Übergang zwischen verschiedenen Gefühlszuständen verdeutlichen. Zum Beispiel kann ein Kind lernen, dass Traurigkeit oft in Glück umschlagen kann, wenn es eine Lösung für ein Problem findet oder eine positive Veränderung erlebt.

Bücher, die gut entwickelte Charaktere zeigen, die mit eigenen Ängsten oder Sorgen kämpfen, können Kindern helfen, Empathie zu entwickeln. Wenn ein Kind die inneren Konflikte einer Figur nachvollzieht, erweitert sich sein eigenes Verständnis für die Gefühle anderer. Dadurch wird das Kind in seiner Fähigkeit unterstützt, sich in andere hineinzuversetzen, und lernt, die Emotionen von Gleichaltrigen besser zu erkennen und darauf einfühlsam zu reagieren.

Die Rolle von Illustrationen

In vielen Kinderbüchern spielen nicht nur die Worte, sondern auch die Illustrationen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, Emotionen zu vermitteln. Bilder können die intensiven Gefühle von Figuren verstärken und oft noch deutlicher ausdrücken als Worte. Ein trauriger Gesichtsausdruck, die Körperhaltung eines Charakters oder die Verwendung bestimmter Farben (wie Blau für Traurigkeit oder Rot für Wut) helfen Kindern, Emotionen visuell zu erkennen und zu verstehen.

Bücher für unterschiedliche Altersgruppen

Je nach Alter und Entwicklungsstand unterscheiden sich die Bedürfnisse der Kinder im Hinblick auf die Vermittlung von Emotionen. Bei jüngeren Kindern können Bilderbuchgeschichten, die einfache Emotionen wie Freude, Trauer und Wut thematisieren, hilfreich sein. Diese Bilderbücher konzentrieren sich oft auf konkrete Situationen, in denen sich Kinder selbst wiedererkennen können.

Im Vorschulalter sind Bücher, die soziale Interaktionen und Konflikte zwischen Kindern darstellen, besonders wertvoll. Sie bieten nicht nur Einsicht in die Gefühlswelt der Kinder, sondern auch in die Art und Weise, wie Gefühle in zwischenmenschlichen Beziehungen Ausdruck finden.

Im Grundschulalter können komplexere Geschichten mit tiefergehenden emotionalen Themen und verschiedenen Perspektiven dabei helfen, die Empathiefähigkeit und das Verständnis für differenzierte Gefühle weiter zu entwickeln.

Kinderliteratur zur Förderung der emotionalen Kompetenz?

Ein Forschungsteam an der Freien Universität Berlin entwickelte 2008 ein literaturbasiertes Interventionsprogramm zur Förderung emotionaler Kompetenz für Kinder der zweiten und dritten Klasse. Grundlage des Programms war das Kinderbuch “Ein Schaf fürs Leben”, das gezielt eingesetzt wurde, um das Emotionsvokabular, das Emotionswissen sowie die Fähigkeit zu stärken, gemischte und maskierte Gefühle zu erkennen. Nach 10 Wochen zeigte sich, dass die Kinder der Interventionsgruppe signifikant höhere Werte in diesen Bereichen erzielten, insbesondere bei der Wahrnehmung von verdeckten Gefühlen. Die Ergebnisse belegen: Kinderliteratur kann die emotionale Kompetenz von Kindern wirksam fördern, indem sie das Verständnis für Gefühle erweitert und differenziert.

Einsatz von Kinderbüchern zur Bewältigung von Trauer

Kinder haben oft Schwierigkeiten, ihre Gefühle auszudrücken – besonders in traurigen oder belastenden Stuationen wie dem Verlust eines Haustiers oder einer nahestehenden Person. In solchen Momenten erreichen die Worte von Erwachsenen sie oft nicht, oder die Kinder fühlen sich nicht verstanden, was es noch schwieriger macht, mit der Trauer oder Verwirrung umzugehen. Kinderbücher können daher in Zeiten der Trauer eine Unterstützung sein. [„Weil du mir so fehlst“ von Ayse Bosse und Andreas Klammt] Sie bieten einen geschützten Rahmen, in dem Kinder sich mit ihren eigenen Gefühlen auseinandersetzen können. Gleichzeitig helfen die Geschichten dabei, die oft überwältigenden Emotionen besser zu verstehen.

Durch Geschichten, die kindgerecht auf Trauer, Abschied und den Umgang mit Verlust eingehen, können Kinder lernen, dass ihre Gefühle normal und okay sind. Bilder und Erzählungen bieten Kindern somit die Möglichkeit, ihre Ängste, Fragen oder Unsicherheiten auszudrücken, ohne dass sie sich überfordert fühlen.

Fazit

Kinderbücher sind tolle Hilfsmittel zur Förderung der emotionalen Entwicklung von Kindern. Durch Geschichten können Kinder verschiedene Emotionen kennenlernen, verstehen und einen gesunden Umgang mit ihnen erlernen. Darüber hinaus fördern Kinderbücher die Empathiefähigkeit, indem sie Kindern die Möglichkeit bieten, sich in andere hineinzuversetzen und deren Perspektiven einzunehmen. So tragen Kinderbücher nicht nur dazu bei, das Emotionsverständnis zu erweitern, sondern fördern auch das Ausdrucksvermögen und die Fähigkeit, sich selbst und andere besser zu verstehen.

Siehe auch: Wenn die Kita schon zu spät ist, Ralf Pauli, taz, 30.7.2025. Eine Langzeitstudie zeigt, wie stark soziale Ungleichheiten bereits im Alter von zwei Jahren sichtbar werden.

Gemeinsam ein Kinderbuch anschauen: „Solche Interaktionen und das Verhalten der Eltern in diesen Interaktionen können die sprachliche und sozial-emotionale Entwicklung von Kindern maßgeblich beeinflussen“. Manja Attig vom Bamberger Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi)

In der Geschichte verweilen im eigenen Tempo.

Der lange Arm der Corona-Pandemie: So viele Schüler wie noch nie schaffen den Abschluss nicht

Die Pandemie und die damit einhergehenden Lockdowns haben das Bildungsproblem noch weiter verstärkt. Das zeigt sich bei den Abschlussprüfungen an einer Berliner Schule.

Ada M. Hipp

Berliner Zeitung, 09.04.2025. Dies ist ein Open-Source-Beitrag.  

Während die Politik sich selbstzerfleischend versucht, die Corona-Zeit aufzuarbeiten, versuchen wir Lehrer derweil, das zu tun, was uns kaum gelingen mag: entstandene Bildungslücken zu schließen und unsere Schülerschaft zu erfolgreichen Abschlüssen zu führen.

Es ist ein Donnerstag im März, ein besonderer Tag. Es ist Prüfungstag. Im Schulgebäude ist es den ganzen Tag über ruhig. Nur hier und da hört man ein Flüstern.

Die siebten und achten Klassen sind außer Haus, der neunte Jahrgang schreibt eine Probe-BBR. Die Zehntklässler werden heute ihre erste Prüfung absolvieren. Es ist eine von vier Prüfungen im Rahmen der Prüfungen zum Mittleren Schulabschluss. Sie nennt sich PibF, Prüfung in besonderer Form, allgemein hin bekannt als Präsentationsprüfung. Die Themen zu dieser Art von Prüfung können sich die Prüflinge selbst aussuchen. Sie können sie selbstständig zu Hause, in der Schule oder in der Bibliothek mit ihren Co-Prüflingen vorbereiten. Die PibF ist eine Gruppenprüfung.

Die Prüfungsergebnisse erfahren sie unmittelbar nach der Prüfung in einem Abschlussgespräch. An unserer Schule erhoffen sich alle Prüflinge mindestens die Note Drei, damit sie die Note Fünf, die die Mehrheit von ihnen in der schriftlichen Mathematik-Prüfung zum MSA erfahrungsgemäß voraussichtlich bekommen wird, ausgleichen und somit den Mittleren Schulabschluss erreichen können.

Keine Jubelschreie – was ist passiert?

Doch auch danach, nach mehreren abgelaufenen Prüfungen, ändert sich an der Ruhe im Haus nichts. Es bleibt still und leise, irgendwie bedrückend gar. Ungewöhnlich. Normalerweise hören wir nach den Prüfungen, vereinzelt zumindest, Jubelschreie, Lachen und freudig erregte Gespräche, in denen einander die guten Noten laut zugerufen werden. An diesem Tage nicht. Was ist passiert?

Die ersehnten Dreien wurden nicht so häufig erteilt, wie sich die Schüler das gewünscht hatten, geschweige denn Zweien oder gar Einsen. In diesem Jahr wurde gehäuft die Note Vier erteilt, manchmal sogar die Note Fünf. Die Betreffenden wissen, dass sie nun unter enormen Druck stehen, die schriftlichen Prüfungen in Mathematik, Deutsch und Englisch wenigstens mit der Note Vier bestehen zu müssen. Der Ausgleich einer Fünf, zum Beispiel im „Angstfach“ Mathematik, ist 25 Prozent unserer Schülerinnen und Schüler in diesem Jahr nun nicht mehr möglich.

Der diesjährige Jahrgang ist der leistungsschwächste Jahrgang an unserer Schule seit der Einführung der Berliner Schulstrukturreform im Jahre 2010, die die vormaligen Haupt- und Realschulen zu Integrierten Sekundarschulen werden ließ.

80 Prozent der jetzigen Zehntklässler fiel bei den Prüfungen zur Berufsbildungsreife in Mathematik und Deutsch im Jahr 2024 durch. Das heißt im Klartext, dass diese 80 Prozent momentan keine Aussicht haben, die Schule mit der Mittleren Reife zu verlassen. Es sei denn, unter ihnen befinden sich diejenigen, die die PibF soeben mindestens mit der Note Drei bestanden haben.

Ein Novum im Brennpunkt

Einige Schülerinnen und Schüler wissen schon jetzt, dass sie die Schule wahrscheinlich ohne Abschluss verlassen werden. Ihre einzige Chance bestünde in der erfolgreichen Wiederholung der BBR-Prüfung. Zum Halbjahr hin hatten sie solch schlechte Noten, dass sie nicht zu den MSA-Prüfungen zugelassen werden konnten. Auch für uns an einer sogenannten Brennpunktschule ein Novum.

Nicht, dass unsere Schülerinnen und Schüler keinen Support von uns erfahren hätten. Im Gegenteil, wissend um die zum großen Teil prekären Lern- und Arbeitsbedingungen in ihrem häuslichen Umfeld, wissend um die oft fehlende Unterstützung im Elternhaus und wissend um ihren Mangel an notwendigen Kompetenzen, haben wir ihnen so weit Hilfe zukommen lassen, wie es gerade noch statthaft ist. Vor allem gaben wir Zeit.

Der Faktor Zeit spielt eine wichtige Rolle. Besonders in der Woche direkt vor den Prüfungen gaben Fachlehrkräfte ihre Unterrichtsstunden für die Prüfungsvorbereitungen her und verzichteten auf das Durchdrücken ihres Lehrstoffs.

Vertretungsstunden wurden mehrheitlich in den PC-Räumen verbracht. So konnten die Prüflinge in ihren Teams arbeiten, was ihnen in der Regel aufgrund fehlender privater Räumlichkeiten sonst verwehrt geblieben wäre. Sie bekamen auch die Gelegenheit, sich am Nachmittag in der Schule zusammenzusetzen und die Computer der Schule für die Recherche und das Erstellen einer Powerpoint-Präsentation zu nutzen.

Zudem gibt es an unserer Schule zu Beginn des Schuljahres einen einwöchigen Workshop zum Thema Präsentationsprüfung, in dem Schritt für Schritt notwendige Strategien für eine erfolgreiche Prüfung trainiert werden.

Ihnen fehlen schlichtweg die Worte

Nahezu 100 Prozent unserer Schülerinnen und Schüler haben einen Migrationshintergrund. Die einen leben in der dritten oder vierten Generation in Deutschland. Ihre Eltern sind zwar hier in die Schule gegangen, doch haben sie häufig aufgrund von Sprachbarrieren entweder einen sehr niedrigen Bildungsabschluss oder sie verließen das deutsche Bildungssystem ohne Abschluss. Andere wiederum haben Eltern, die in ihren Heimatländern nur wenige Jahre, manche sogar nie die Schule besuchten.

Der oft einzige intellektuelle Input für die Kinder kommt vonseiten der Schule, manchmal kann es sogar TikTok oder Instagram sein. Schülerinnen haben hier mitunter Buchempfehlungen bekommen.

Die größte Schwierigkeit für unsere Schülerschaft besteht darin, Themen für die Prüfung zu finden. Die meisten von ihnen kommen aus sogenannten bildungsfernen Elternhäusern. Bücher im Haushalt sucht man hier vergeblich, gelesen wird oft nicht. Gemeinsame Gespräche am „Abendbrottisch“ finden nicht statt. Ihnen fehlen schlichtweg die Worte, mit denen es ihnen möglich wäre, eine ansprechende Präsentation zu entwickeln und zu gestalten. Das Thema Schule spielt im häuslichen Umfeld kaum eine Rolle. So auch in der Zeit der Pandemie.

Die Eltern waren zugleich Lehrkräfte

Der diesjährige zehnte Jahrgang besuchte die fünfte Klasse, als sich am 25. März 2020 die Schulen zum ersten Mal schlossen. Beschult wurden sie aus der Ferne, soweit möglich, soweit Eltern telefonischen Kontakt zu der Grundschullehrerin hatten, soweit Eltern per E-Mail, Arbeitsaufträge für ihre Kinder zugesandt werden konnten, soweit vereinzelt der Grundschullehrer auch mal persönlich bei ihnen vorbeikam und Arbeitsblätter in den Briefkasten warf, mit Anleitungen für die Eltern.

Denn sie waren es, die ihre Kinder zum Erledigen der Aufgaben brachten und sie unterstützten, sie waren es, die ihre Kinder dabei nicht nur beaufsichtigten, sondern Lehrkräfte sowie Eltern gleichzeitig waren. Zumindest bei bildungsnahen Elternhäusern oder solchen, denen die Wichtigkeit von Schule bewusst ist. Anders bei vielen unserer Schülerinnen und Schüler.

Wie sie uns damals erzählten, haben sie die Aufgaben der Grundschule eher selten bis gar nicht erledigt. Oft fehlte ihren Eltern eine eigene E-Mail-Adresse, manche Familien besaßen nur ein Handy, welches nicht immer Guthaben hatte.

In einigen Familien teilten sich bis zu sechs Kinder einen Laptop. Zu Hause waren sie auf sich allein gestellt, weil ihre Eltern ihnen nicht helfen konnten. Ältere Geschwister waren für sie oft die einzige schulische Unterstützung. Manchmal gab es auch Kontakte zu Mitschülern.

Versprechen der Politik wurde ad absurdum geführt

Nach den Sommerferien und Lockdown 1 sollte es keine Schulschließungen mehr geben. Die Pandemie schien durch die Sommerhitze gebannt zu sein. Folglich wurde beschlossen, dass die Schulen wieder für alle öffneten, d.h. Unterricht wie vor der Pandemie, alle Fächer in voll besetzten Klassenzimmern, allerdings mit AHA-L. Abstand, soweit im vollen Klassenraum überhaupt möglich, Hygiene unter Verwendung diverser Desinfektionsmittel, Atemschutzmaske sowie Lüften.

Da immer mehr Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte sich mit Corona ansteckten, konnten Schulen die Erlaubnis der Durchführung von Hybridunterricht – die eine Hälfte der Klasse hat Unterricht in der Schule und die andere Hälfte sollte online bzw. per Vergabe von Aufgaben und Arbeitsblättern zu Hause „beschult“ werden. SalzH wurde zum neuen Begriff: Schulisch angeleitetes Lernen zu Hause.

Am 16. Dezember 2020 schlossen die Schulen erneut. Der Lockdown light vom November reichte nicht aus, um die Pandemie einzudämmen. Das Versprechen der Politik, einen weiteren Lockdown für Schulen werde es nicht geben, wurde ad absurdum geführt.

Wieder mussten wir uns mit den Schülerinnen und Schülern online zum Unterricht verabreden, auch die neuen siebten Klassen waren dabei. Dieses Mal waren wir besser vorbereitet, alle hatten eine eigene, schulbezogene E-Mail-Adresse. Kontakte zueinander war über diverse, eigens eingerichtete Plattformen möglich geworden.

2021 wurden die Prüfungen ausgesetzt

Die Prüfungen zum MSA 2021 wurden ausgesetzt, genau wie im Jahr zuvor. In den Jahren 2022 und 2023 wurden die Prüfungen unter Reduzierung des Anforderungsniveaus eingeschränkt durchgeführt. Im Abschlussjahr 2024 sollten diese Einschränkungen nicht mehr gelten. Die Prüfungen zum MSA wurden wieder auf dem Niveau von vor der Pandemie durchgeführt. Versäumte Unterrichtsstunden, der versäumte Lehrstoff aus den Jahren 2020, 2021 und 2022 seien … aufgeholt? Spiegeln das die Abschlüsse wider? Sollte jetzt alles wieder gut sein?

Bereits die Prüfungen zur Berufsbildungsreife 2023 lassen daran zweifeln. 63 Prozent unserer Schülerinnen und Schüler erreichten die Berufsbildungsreife nicht. Es war unser erster „Coronajahrgang“ in Klasse 7. Den Mittleren Schulabschluss 2024 erreichten 30 Prozent.

Die Pandemie und die damit verbundenen Schulschließungen tragen eine Mitschuld daran, dass wir es nicht geschafft haben, entstandene Defizite aufzuholen. Sie hat letztlich zu Tage gebracht, was schon seit Jahren im Untergrund schwelt. Denn: Unzureichende frühkindliche Bildung, mangelhafte bis fehlende Förderung im Grundschulalter, wenig bis gar keine Unterstützung im (oft bildungsfernen) Elternhaus, massive Defizite u.a. in der Beherrschung der deutschen Sprache, im verstehenden Lesen und logischen Denken, all das gepaart (auch) mit geringfügiger Motivation und Lernbereitschaft, gab es schon vor der Pandemie. Mit dem Startchancen-Programm, kann es uns vielleicht gelingen, Kindern (endlich) Bildungsgerechtigkeit zukommen zu lassen.

Ada M. Hipp, Jahrgang 1968, lebt mit ihrer Familie in Berlin. Seit 1992 ist sie im Berliner Schuldienst tätig. Über ihre Erlebnisse und die ihrer Schülerinnen und Schüler während der Schulschließungen schrieb sie in ihrem Buch „Ich und du, Schule zu und digital im Nu“, erschienen im Novum-Verlag epubli.
Transparenzhinweis: Die Autorin verwendet ein Pseudonym, der wahre Name ist der Redaktion bekannt.


Hinweise von „Schulforum Berlin“ zum Text:

Berliner Schulstrukturreform: https://schulforum-berlin.de/?s=schulstrukturreform

Abschlüsse an den Integrierten Sekundarschulen nach der 9. und 10. Klasse: https://www.berlin.de/sen/bildung/schule/pruefungen-und-abschluesse/abschluesse-an-der-iss-nach-klasse-9-und-10/ [10.04.2025]

Prüfungsaufgaben Berufsbildungsreife BBR: https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/fileadmin/bbb/unterricht/pruefungen/Materialsammlung_VA9_Maerz_2017.pdf [10.04.2025]

Prüfungsaufgaben Mittlerer Schulabschluss MSA: Prüfungsaufgaben MSA – Berlin.de

Startchancen-Programm: https://www.berlin.de/sen/bildung/unterstuetzung/startchancen-programm/ [10.04.2025]

Handys im Unterricht – ein klares NEIN!

Eine OECD-Studie von 2024 kommt in dieser Frage zu einem klaren Ergebnis: Smartphones senken nicht nur die Lernleistung der Schülerinnen und Schüler, sondern stören auch das Sozialklima. Ein Verbot von Smartphones in Schulen wird empfohlen. In einigen Ländern, wie etwa Frankreich, Italien, Großbritannien und Brasilien, wurde dies bereits umgesetzt. Deutschland gehört nicht dazu. Die Entscheidung wird den einzelnen Schulen überlassen. Dabei weisen die Studien klar in eine Richtung: Je näher das Smartphone, desto geringer die Aufmerksamkeit und desto geringer ist die Lernleistung.

Die deutschen Schülerinnen und Schüler schneiden in internationalen Bildungsvergleichen derzeit eher mäßig ab. Das Ergebnis der letzten OECD Pisa-Studie: Besonders bei der Leseleistung waren deutsche Schüler schlechter als noch in den Jahren zuvor. Bildungsforscher Olaf Köller wird im NANO-Beitrag konkret: „Wir haben heute die Situation, dass drei von zehn Schülerinnen und Schülern, die 15 Jahre sind, eigentlich nicht lesen, schreiben und rechnen können, das heißt 30 Prozent. Das sind in absoluten Zahlen 250.000.“[3] Das bedeutet: Jährlich entlässt die Schule 250.000 Jugendliche mit „geringer Literalität“ („Funktionale Analphabeten“)[4]!

In der OECD-Studie heißt es explizit:

„Eine Maßnahme, die nachweislich Wirkung zeigt, ist ein Verbot von Smartphones in der Schule. PISA-Daten deuten darauf hin, dass solche Verbote wirksam sein können, wenn auch viel von der Durchsetzung abhängt.“[5]

Überraschend waren allerdings manche Presseberichte zu den Ergebnissen dieser Studie. Norbert Häring berichtete auf apolut.net am 11.6.2024: „Medien verdrehen Warnung der OECD zu Smartphones“[6].

Der SPIEGEL, so Häring, schaffte auf Basis der Meldung der Deutschen Presse-Agentur dpa das Kunststück, den Tenor der Studie in der Überschrift komplett umzudrehen. Das Magazin titelte: „OECD empfiehlt gezielten Einsatz von Handys im Unterricht“[7] und textete im Vorspann: „Schülerinnen und Schüler, die ständig aufs Handy starren, kommen nicht zum Lernen. Aber wenn Mobiltelefone gezielt im Unterricht eingesetzt werden, kann das sogar den Lernerfolg steigern. Das zeigt eine OECD-Studie.“

Anzumerken ist, dass die OECD nicht von „Mobiltelefonen“, sondern von „digitalen Geräten“ spricht, die nützlich für den Unterricht sein können. Die von dpa inspirierten Medienberichte machen daraus, dass die Nutzung von Smartphones im Unterricht den Lernerfolg steigere. Dabei macht die OECD-Studie auf Seite 6 unter der Überschrift „Der Kampf gegen die Ablenkung“[8] ganz ausdrücklich klar, dass (private) Smartphones am wenigsten als Unterrichtsinstrumente geeignet sind, weil die Schüler mit diesen multifunktionalen Geräten sehr viel anderes tun als lernen und dadurch vom Unterricht abgelenkt werden.

Andreas Schleicher, Leiter der Abteilung Bildung der OECD dazu in NANO: „Was wir sehen ist, dass die Bildungssysteme, die ein Handyverbot haben, weniger Schwierigkeiten haben. Da gibt es weniger Ablenkung, da gibt’s auch weniger soziale und emotionale Defizite. Das kann man schon klar sagen.“[9]

NANO berichtet weiter: Das Ablenkungspotential von Handys im Unterricht ist in der Wissenschaft unstrittig. 36,9 Stunden verbringen Jugendliche in Deutschland jede Woche am Smartphone. Umgerechnet fünf Sunden lang hängen die Befragten also täglich am Handy. Die Hälfte erhält mindesten 237 Benachrichtigungen pro Tag, 60 davon gehen während der Schulzeit ein.

Klaus Zierer und Tobias Böttcher von der Universität Augsburg haben die Erfahrungen vieler Lehrkräfte mit Smartphoneverboten gesammelt. Sie kommen im Beitrag von NANO zum selben Urteil wie die OECD-Studie.

Tobias Böttcher: „Die Veränderungen, die zu beobachten waren, die betreffen in erster Linie das soziale Klima, also den Umgang der Schülerinnen und Schüler untereinander. Wir gehen davon aus, dass das Sozialklima die Voraussetzung ist für die Lernleistung, die die Schülerinnen und Schüler letztendlich erbringen können.“[10]

Die Augsburger Erziehungswissenschaftler untersuchten die Auswirkungen solcher Smartphoneverbote anhand von fünf internationalen Studien aus Norwegen, Spanien, Tschechien, England und Schweden.

Klaus Zierer: „Die zentrale Beobachtung infolge eines Smartphoneverbotes war, dass sich die Pausen komplett verändert haben. Die Interaktion zwischen den Schülerinnen und Schülern waren ja andere, sie haben miteinander gespielt, sie haben miteinander gesprochen und gleichzeitig konnte festgestellt werden, dass das Phänomen Cybermobbing, das in den letzten Jahren immer mehr zunimmt, in den Schulen zurückgedrängt worden ist und damit die Schule wieder mehr zu einem Lebensraum für Kinder und Jugendliche geworden ist.“[11]

NANO berichtet weiter: Erstaunlicherweise beurteilte ein Großteil der Schülerinnen und Schüler ein Smartphoneverbot im Nachhinein als positiv. Den Ergebnissen der Augsburger Pädagogen zufolge ist aber ein alleiniges Verbot nicht ausreichend. Allein schon, weil Smartphones fester Bestandteil der Alltagskultur sind. Ein solches Verbot muss pädagogisch begleitet werden, um einen verantwortungsvollen Umgang mit der Technik zu fördern. Aber die Smartphones müssen raus aus der Schule!

Klaus Zierer: „Die Studien die wir auswerten weisen uns diesen Weg und sie sagen ganz klar, die Smartphones müssen weggesperrt werden, […] sie dürfen nicht im Klassenzimmer sein. Da wir auch wissen, je näher das eigene Smartphone ist, desto geringer ist die Aufmerksamkeitsfähigkeit und desto geringer ist die Lernleistung.“[12]

Lindbergs Team hat die Studie mit 42 Probanden im Alter zwischen 20 und 34 Jahren durchgeführt. Allein die Verfügbarkeit des Gerätes senkte die Aufmerksamkeit um 15 Prozent. Für Aufmerksamkeit stehen nur begrenzte kognitive Ressourcen zur Verfügung. Das Smartphone als Psychofalle. Bereits die Anwesenheit des Gerätes produziert die Erwartung von Reizen und aktiviert dabei Elemente des körpereigenen Belohnungssystems.

Sven Lindberg: „Das passiert mittlerweile so vollautomatisch, dass das Handy gar nicht mehr angeschaltet sein muss und diese Reize kommen – sondern ich mache mir Gedanken, welche Reize ich gerade verpasse.“[15]

Alle bisher durchgeführten Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen, die eigentlich zu einem strikten Handyverbot in Schulen führen müssten. In Deutschland bleibt es nach wie vor den einzelnen Schulen überlassen.

Andreas Schleicher in NANO: „Wenn man das den Schulleitungen überlässt, da sehen wir kaum Effekte. Die Schüler finden immer Wege das zu umgehen. Wenn man das den Lehrkräften überlässt, auch das haben wir untersucht, auch das ist im Grunde weitgehend wirkungslos.“[16]

Man tut sich hierzulande schwer, Konsequenzen zu ziehen.

In der OECD-Studie „Students, digital devices and success“ heißt es dazu auf Seite 8:

„Viele Bildungseinrichtungen haben Regeln eingeführt, um das Problem der Ablenkung anzugehen, aber ihre Wirksamkeit ist minimal. Wenn die schriftlichen Erklärungen oder Regeln einer Schule zu allgemein gehalten, ungenau oder nachsichtig sind, ist es unwahrscheinlich, dass sie ein effektives Lehren und Lernen mit digitalen Geräten unterstützen. Lehrer müssen auch in der Lage sein, die Regeln durchzusetzen, werden aber wahrscheinlich oft Schwierigkeiten haben, die Schüler effektiv zu überwachen, selbst wenn sie digitale Geräte in den Unterricht integrieren. Eine Maßnahme, die nachweislich Wirkung zeigt, ist ein Verbot von Smartphones in der Schule. PISA-Daten deuten darauf hin, dass solche Verbote wirksam sein können, wenn auch viel von der Durchsetzung abhängt. […] Die Daten deuten darauf hin, dass selbst in Schulen mit Verboten die Schüler Schwierigkeiten haben können, ein verantwortungsvolles Verhalten in Bezug auf die Smartphonenutzung an den Tag zu legen.“[17]  

Klaus Zierer fasst die bisherigen Erkenntnisse in „campus schulmanagement“ am 3.1.2025 zusammen: „Ein Smartphone-Verbot braucht die volle Unterstützung und Überzeugung des gesamten Kollegiums, um wirklich zu greifen. Halbherzige Maßnahmen, die nicht konsequent umgesetzt werden, kann man sich sparen. Nur mit klaren Regeln und einer geschlossenen Haltung funktioniert ein Verbot, das bestätigen auch die Studien.“[18]

Da stellt sich die Frage: Warum fehlt für ein generelles Smartphoneverbot in der Schule bisher der politische Wille?

Ein nachahmenswertes Beispiel:

Die brasilianische Zeitung „pagina12“ berichtete, dass in Brasilien die Verwendung von Smartphones an Schulen durch ein Gesetz generell verboten wurde[19]. Das Verbot betrifft öffentliche wie private Schulen auf Primarschul- und Sekundarschulebene und gilt für den Unterricht wie auch während der Pausen.

Interessant dabei ist: Es gilt auch ein Verbot für die Minister des brasilianischen Präsidenten Lula, mit ihren Smartphones an Sitzungen teilzunehmen, weil sie dadurch abgelenkt seien, so wie es in der Schule auch der Fall sei.

Abspann bei NANO: In der ganzen Geschichte der Menschheit gab es keine Entwicklung die unser Leben so rasant komplett umgekrempelt hätte wie die des Smartphones. Diese Ablenkungsmaschine ist ein Angriff auf unsere wichtigste menschliche Fähigkeit, nämlich sich auf eine Sache fokussieren zu können. Mit dieser Herausforderung können wir die Kinder nicht alleine lassen, das ist Sache der Eltern, aber auch eine staatliche Aufgabe.

Anmerkungen und Quellen durch Schulforum-Berlin:


[1] https://www.3sat.de/wissen/nano/250128-sendung-smartphoneverbot-im-unterricht-pro-und-contra-nano-100.html [30.01.2025]

[2] Students, digital devices and success. OECD 2024. https://www.oecd.org/en/publications/students-digital-devices-and-success_9e4c0624-en.html

[3] https://www.3sat.de/wissen/nano/250128-sendung-smartphoneverbot-im-unterricht-pro-und-contra-nano-100.html [30.01.2025]

[4] Menschen, die nicht ausreichende Fähigkeiten im Lesen und Schreiben haben „sind aufgrund ihrer begrenzten schriftsprachlichen Kompetenzen nicht in der Lage, am gesellschaftlichen Leben in angemessener Form teilzuhaben.“ Dieses Problem wurde im TV-Beitrag nicht weiter thematisiert. https://www.fachstelle-grundbildung.de/funktionaler-analphabetismus.html

[5] Students, digital devices and success. OECD 2024. (S. 8): „One action that has demonstrable impact is a ban on smartphones at school. PISA data suggest that such bans can be effective, although with a lot depending on enforcement.“ https://www.oecd.org/en/publications/students-digital-devices-and-success_9e4c0624-en.html 

[6] apolut.net, Medien verdrehen Warnung der OECD zu Smartphones, Norbert Häring, 11.6.2024, https://apolut.net/medien-verdrehen-warnung-der-oecd-zu-smartphones-von-norbert-haering/

[7] Überschrift des SPIEGEL-Berichts: OECD empfiehlt gezielten Einsatz von Handys im Unterricht. https://www.spiegel.de/panorama/bildung/bildung-oecd-studie-empfiehlt-gezielten-einsatz-von-handys-im-unterricht-a-5e0d1bd5-99ae-4783-92a9-0ecb08d15c1a [30.01.2025]

[8] Students, digital devices and success. OECD 2024. (S. 6). https://www.oecd.org/en/publications/students-digital-devices-and-success_9e4c0624-en.html

[9] 3sat – NANO vom 28. Januar 2025. https://www.3sat.de/wissen/nano/250128-sendung-smartphoneverbot-im-unterricht-pro-und-contra-nano-100.html [30.01.2025]

[10] 3sat – NANO vom 28. Januar 2025. https://www.3sat.de/wissen/nano/250128-sendung-smartphoneverbot-im-unterricht-pro-und-contra-nano-100.html [30.01.2025]

[11] 3sat – NANO vom 28. Januar 2025. https://www.3sat.de/wissen/nano/250128-sendung-smartphoneverbot-im-unterricht-pro-und-contra-nano-100.html [30.01.2025]

[12] 3sat – NANO vom 28. Januar 2025. https://www.3sat.de/wissen/nano/250128-sendung-smartphoneverbot-im-unterricht-pro-und-contra-nano-100.html [30.01.2025]

[13] Handy aus, Gehirn an. Paderborner Wissenschaftler*innen veröffentlichen Studie zur Auswirkung von Smartphones auf die Aufmerksamkeit in Nature-Journal. https://www.gew-ansbach.de/data/2023/07/Uni-Paderborn_Handy_aus_Gehirn_an_2023-07-01.pdf [30.01.2025]

[14] 3sat – NANO vom 28. Januar 2025. https://www.3sat.de/wissen/nano/250128-sendung-smartphoneverbot-im-unterricht-pro-und-contra-nano-100.html [30.01.2025]

[15] 3sat – NANO vom 28. Januar 2025. https://www.3sat.de/wissen/nano/250128-sendung-smartphoneverbot-im-unterricht-pro-und-contra-nano-100.html [30.01.2025]

[16] 3sat – NANO vom 28. Januar 2025. https://www.3sat.de/wissen/nano/250128-sendung-smartphoneverbot-im-unterricht-pro-und-contra-nano-100.html [30.01.2025]

[17] Students, digital devices and success. OECD 2024. (S. 8). https://www.oecd.org/en/publications/students-digital-devices-and-success_9e4c0624-en.html 

[18] Klaus Zierer am 3.1.2025 in „campus schulmanagement. https://www.campus-schulmanagement.de/magazin/smartphone-verbote-an-schulen-was-bringen-sie-wirklich-klaus-zierer [30.01.2025]

[19] Siehe dazu: https://www.pagina12.com.ar/796695-lula-promulgo-la-ley-que-prohibe-el-uso-de-celulares-en-las- [30.01.2025]

„Das Bunte können wir nicht mehr abschaffen. Was wir brauchen, sind Konzepte, um damit umzugehen“

PISA-Schock: Erfahrene Lehrkraft spricht über den Zusammenhang von Diversität und Leistungseinbruch an den Schulen im Land.

Veröffentlicht auf Focus-online am 8. Januar 2024. Veröffentlichung auf Schulforum-Berlin mit freundlicher Genehmigung des Autors, Rainer Werner.

Kürzlich hat der frühere Berliner Gesamtschul- und Gymnasiallehrer Rainer Werner in einem Interview erläutert, wo er die wichtigsten Hebel im Umgang mit der Bildungskrise sieht.[1] Das Thema Migration war für ihn dabei eine Randnotiz. Weil es im Forum ungewöhnlich heftig diskutiert wurde, hat Werner sich dazu bereit erklärt, das Ganze zu vertiefen.

Wir haben kürzlich ein Interview mit Ihnen geführt, das auf außergewöhnlich große Resonanz gestoßen ist. In den Kommentaren im „Forum“ spielte Ihr Hinweis auf die Wichtigkeit der Sekundärtugenden eine große Rolle. Könnten Sie noch einmal ausführen, welche Tugenden Sie meinen.

Heute geschieht es immer häufiger, dass Schüler vor Aufgaben kapitulieren, die Ihnen zu kompliziert erscheinen. Wenn eine Mathe-Aufgabe nicht innerhalb einer Minute lösbar ist, schmeißen manche den Block in die Ecke und sind völlig frustriert. Viele Schulen arbeiten deshalb mit Hilfe von Schulpsychologen daran, das Durchhaltevermögen der Schüler zu verbessern, ihnen Ausdauer und Ehrgeiz beizubringen. Das ist auch nötig, damit sich die Lernergebnisse verbessern. Aufmerksamkeit ist z. B. eine der Sekundärtugenden, bei der es großen Handlungsbedarf gibt. Die Digitalität hat unser Leben beschleunigt: Inhalte werden oft nur noch überflogen, um ein Like zu setzen, und schon geht’s direkt zur nächsten Botschaft. Die Digitalisierung wird sich nicht aufhalten lassen, im Gegenteil, die Prozesse werden sich weiter beschleunigen. Deshalb arbeitet ein guter Unterricht daran, dass sich die Schüler ohne Zeitdruck auf den geistigen Prozess des Unterrichts einlassen und dabei Durchhaltevermögen entwickeln.

Welche Herausforderungen gibt es noch?

Kaum jemand dürfte bestreiten wollen, dass wir uns in einer gesellschaftlichen Entwicklung befinden, in der die Schule zahlreiche Probleme, die im Außen existieren, ausbügeln muss: Intoleranz, Unduldsamkeit, Neigung zu Gewalt, Sprachunfähigkeit, Verrohung. Ich finde es falsch und realitätsfremd, wenn wir uns darüber beschweren und sagen, dass sei nicht die Aufgabe von Bildungsinstitutionen. Wir können auf das Verhalten der Kinder am besten da einwirken, wo sich ein großer Teil ihres Lebens abspielt: an den Schulen. Da heute die meisten Schulen Ganztagesschulen sind, gäbe es ideale Möglichkeiten, soziale Tugenden wie Kooperation, Teamgeist, Hilfsbereitschaft und Solidarität auszubilden. Freie Arbeits- und Projektgruppen wären dafür geeignete Formate.

Sehen Sie auch Handlungsbedarf im Unterricht?

Ja, ich bin überzeugt, es würde ein Ruck durch die Schulen gehen, wenn sich alle bemühen würden, das Kerngeschäft der Lehrkräfte, den Unterricht, zu stärken. Viele Schulen leiden darunter, dass von den Schulbehörden vor allem Organisatorisches kommt. Dabei ist das Betriebssystem einer Schule immer die Didaktik, der gut gemachte Unterricht. Davon hängt ab, ob die Schüler viel oder wenig lernen. Ich würde es wirklich begrüßen, wenn wir die Pascha-Diskussion konstruktiv führen würden! Ich glaube übrigens, dass Friedrich Merz, von dem die „kleine Paschas“ ja ursprünglich stammen, genau das wollte.

Der CDU-Politiker hat sich im vergangenen Jahr bei Markus Lanz zum Thema geäußert…

… richtig, aber zitiert wurde er hinterher immer nur mit den beiden Skandalwörtern. Ich habe damals im Netz nach dem vollständigen Zitat gesucht und konnte es nicht finden. Dann transkribierte ich die Tonspur der Talkshow und siehe da: Das vollständige Zitat schilderte detailliert, mit welchen Zumutungen Grundschullehrerinnen zu kämpfen haben, wenn ihnen Jungen aus dem arabischen Kulturraum keinen Respekt zollen und sich nach einem starken Mann sehnen. Keine einzige Qualitätszeitung hat das Zitat in Gänze abgedruckt und zum Anlass genommen, eine pädagogische Diskussion über die Schwierigkeiten zu führen, denen die Lehrkräfte an unseren Grundschulen ausgesetzt sind. […]

Welche Möglichkeiten gibt es, handgreifliche Konflikte, von denen man in letzter Zeit so häufig hört, einzudämmen?

Es ist fraglich, ob es eine einzelne Lehrkraft allein schafft, die bestehenden Erziehungsdefizite auszugleichen. Das ganze Kollegium muss sich dieser Erziehungsaufgabe widmen, im Idealfall auf Grundlage eines konsensfähigen erzieherischen Leitbildes. An einer Gesamtschule, an der ich zwölf Jahre lang unterrichtet habe, führten wir z.B. ein Kommunikationstraining durch, durch das Schüler lernten, Konflikte verbal und nicht mehr handgreiflich zu lösen. Ein beträchtlicher Teil der Schüler an dieser Schule stammte aus dem patriarchalen Kulturkreis und hatte es nicht gelernt, Konflikte anders als körperlich zu lösen. Es war verblüffend zu sehen, wie die Schüler nach und nach lernten, heikle Situationen im Rollenspiel friedlich aufzulösen und wie sie die neuen Verhaltensmuster dann auch im Pausenhof immer öfter anwandten. Dies nur als ein konzeptuelles Beispiel. Es gibt viele Punkte, an denen angesetzt werden kann oder muss.

Wo zum Beispiel?

Vor einigen Jahren gab es in Berlin eine Kampagne, die sich an männliche Lehramtsstudenten richtete. Das Ziel war, mehr männliche Lehrkräfte an die Grundschulen zu bringen. Die Kampagne richtete sich darüber hinaus auch an junge Männer in der Ausbildung zum Erzieher, denn auch in den Kitas gibt es eine massive Überrepräsentanz des Weiblichen. Meines Wissens hat die Maßnahme gefruchtet, aber nur ein oder zwei Jahre lang, dann ist der Effekt wieder verpufft. Schade. Das Ziel an den Grundschulen sollte ein ausgeglichenes Verhältnis von weiblichen zu männlichen Lehrkräften sein. Fifty-Fifty also. Ich bin überzeugt, das könnte viele der aktuellen Konflikte abschwächen.

Aber nur, wenn die Jungen an eine männliche Lehrkraft geraten und diese dann auch nicht zu soft ist – oder?

Das glaube ich nicht. Die nicht so durchsetzungsstarken Lehrkräfte müssen auch lernen, mit solchen Jungen richtig umzugehen. Ich erinnere mich noch an einen Bio-Lehrer, der mir mal bei einem Schulausflug sein Herz ausschüttete. Er klagte über einen türkischen Schüler, der von der ersten bis zur letzten Minute seinen Unterricht stören würde. Den Kollegen machte das fix und fertig, er stand kurz vor der Depression.

Konnten Sie ihm denn helfen?

Zuerst fragte ich: Was hast du gegen den Knaben unternommen? Er antwortete: Ich habe sämtliche schulischen Sanktionen gegen ihn ergriffen – ohne Erfolg. Dann fragte ich ihn, ob er es schon mal mit Lob probiert habe. Er schaute mich an, als ob ich einen völlig unsinnigen Vorschlag gemacht hätte. Aber ich ließ mich nicht beirren. Rede mal mit anderen Kollegen, die den Schüler kennen, meinte ich. Frage sie, wo die Stärken des Jungen liegen. Und rede am besten auch mal mit dem Sportlehrer. Das war die richtige Fährte, denn der türkische Junge war ein Fußball-Ass, spielte in der Schulmannschaft als Kapitän. Die Mädchen himmelten ihn an.

Wie ging es weiter?

Ich sagte dem Bio-Lehrer, er solle es wie Angela Merkel bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 machen. Einfach zum nächsten Spiel gehen und dann mit dem Jungen ein wenig Smalltalk in der Kabine machen. Genau das tat er. Als er mich beim nächsten Mal kontaktierte, meinte er, er sei mir zu Dank verpflichtet. Er habe den Jungen gelobt – seitdem sei er zahm wie ein Reh. Mir ist es wichtig, diese Geschichte so ausführlich zu erzählen, weil ihr ein häufiges Muster zu Grunde liegt: Oft werden Verhaltensauffälligkeiten von Schülern – Aggressionen, Grenzüberschreitungen, aber auch ein innerer Rückzug – bestraft, statt sie als das zu sehen, was sie meist sind: Hilfeschreie, der Wunsch, mehr beachtet zu werden. Es wäre viel gewonnen, wenn alle Lehrkräfte, die solche Schüler unterrichten, die Signale erkennen und mit den Schülern das Gespräch suchen würden. Viele vermeintlich problematische Schüler, die ich erlebt habe, haben durch ihr Verhalten häusliche Konflikte kompensiert. Wenn man sie nun auch noch in der Schule bestraft und gedemütigt hätte, wären einige von ihnen Schulflüchtige geworden. Dabei gibt es so viele Mut machende Beispiele, wie Konfliktspiralen durchbrochen werden können. […]

Was ist für Sie die wichtigste Erkenntnis der aktuellen PISA-Studie?

Zum ersten Mal wurde dokumentiert, dass die Leistungen aller Schüler unter der größer gewordenen Diversität in den Klassen leiden. Wenn man diese Erkenntnis ernst nimmt, gibt es keine Ausreden mehr. Wir müssen jetzt die Schulen so ertüchtigen, vor allem pädagogisch und didaktisch, dass sie mit den diversen Klassen besser umgehen können.

Wie soll das gehen?

Das Problem ist, dass unsere pädagogischen Konzepte nicht so beschaffen sind, dass sie gutes Lernen unter diesen erschwerten Bedingungen ermöglichen. Die Buntheit können wir sowieso nicht mehr abschaffen. Die ist in modernen Gesellschaften nun mal Realität. In den Lehrerkollegien gibt es so viel pädagogischen Sachverstand, dass es merkwürdig wäre, wenn es einem eingeschworenen Team nicht gelingen würde, Lern- und Erziehungskonzepte zu entwickeln, die mit der Vielfalt der Begabungen, kulturellen und religiösen Prägungen umgehen können. Ich bin davon überzeugt, dass eine Rückkehr zum begabungsgerechten Lernen, vor allem in den Hauptfächern, dazu beitragen könnte, dass alle Schülergruppen gute Lernleistungen erzielen. Warum sollte man nicht die schwachen Lerner in einer Lerngruppe zusammenfassen? Sie würden davon mehr profilieren, als wenn sie im Klassenverband von 25 Schülern untergehen.

Was für Konzepte empfehlen Sie sonst noch, um die Probleme anzupacken?

Zum Beispiel einen durchgehenden fachlichen Förderunterricht für Schüler, die Verständnisprobleme haben. Gute Erfahrungen machen Schulen mit Patenmodellen: Ältere Schüler geben jüngeren fachliche Nachhilfe. Dann die schon genannten Kommunikationsübungen und Rollenspiele. Lehrkräfte müssen lernen, genau hinzuschauen, um Lernkrisen rechtzeitig zu erkennen. Nützlich wäre es, wenn Lehramtsstudenten im Studium das Instrument der Lerndiagnostik besser vermittelt bekämen. Dann könnten sie später als Lehrkraft viel schneller erkennen, wenn ein Schüler fachliche Probleme hat. Nichts ist für einen Schüler frustrierender, als wenn er mit seinen Verständnisproblemen über Wochen und Monate hinweg alleingelassen wird.

Gibt es auch etwas Positives von der Schule zu berichten?

Ja, eine Schülergruppe hat von unserem Schulsystem in besonderer Weise profitiert: die Mädchen. Sie sind die Gewinner des Aufstiegs durch Bildung. Sie haben die Jungen, was die Abi-Zahlen angeht, vor ein paar Jahren überholt. Und auch qualitativ sind sie spitze: Unter den besten fünf Schülern eines Abi-Jahrgangs finden sich oft nur Mädchen. Mädchen mit ausländischen Wurzeln haben daran nachweislich einen immer größeren Anteil. Ja, man könnte sagen, dass auch muslimische Mädchen durchstarten. Wir sollten alles tun, um sie auf diesem Weg zu unterstützen. Wir sollten aber auch die Jungen im Auge behalten und vor allem an den Grundschulen besser in den Fokus nehmen – Stichwort: mehr männliche Lehrkräfte.

Das Wort „Lehrer“ fällt bei Ihnen gerade ziemlich oft…

Ich habe vor einigen Jahren ein Buch mit dem Titel geschrieben „Auf den Lehrer kommt es an“. Das kann man ruhig wörtlich nehmen. Lehrer haben es in der Hand, ob das Lernen gelingt oder nicht. Wer eigene Kinder hat, erlebt beim Abendbrot, dass der Sohn oder die Tochter den einen Lehrer loben, weil er so gut erklären kann, und die andere Lehrerin tadeln, weil es in ihrem Unterricht immer chaotisch zugeht. Bei Klassentreffen 20 Jahre nach dem Abitur können sich gestandene Familienväter noch gut an den tollen Geschichtslehrer erinnern, der die historischen Ereignisse so spannend erzählen konnte. Ein guter Lehrer bleibt ewig im Gedächtnis.

Hätten Sie noch ein schönes Schlusswort?

Ich vergleiche die Schule gerne mit einer ewigen Baustelle. Das Haus ist nie fertig. Mal muss man einen Erker anbauen, mal die Veranda erweitern, mal vielleicht den Garten vergrößern. Schule ist nichts Starres, sondern entwickelt sich durch die, die in ihr wirken, stetig weiter. Die Bewohner des Hauses arbeiten für den Moment, denn morgen kann alles schon wieder anders sein. So wie auch sonst im Leben. Überall in der Gesellschaft gibt es Veränderung. Wir leben in einer Welt, die internationaler, digitaler, bunter geworden ist und sich weiter wandelt. Schule darf sich nicht dagegen abschotten. Wir müssen die Schülerschaft so nehmen, wie sie ist. Zu sagen, in diesem Haus haben einige keinen Platz, wäre falsch.

[1] „Nicht das System ändern! Den Unterricht verbessern!“ | Für eine gute Schule (wordpress.com)

Rainer Werner arbeitete 30 Jahre lang als Lehrer für Deutsch und Geschichte an unterschiedlichen Schulen Berlins. Er hat zahlreiche didaktische Lehrwerke (Ernst Klett und Schroedel Verlag) für den Deutschunterricht verfasst, Vorträge zu pädagogischen und didaktischen Themen gehalten und Seminare und Workshops zur Weiterbildung von Lehrern durchgeführt. Rainer Werner schreibt pädagogische Beiträge für Zeitschriften und Tageszeitungen (FAZ, WELT, CICERO-online) und Bücher über den Lehrerberuf („Auf den Lehrer kommt es an“, „Lehrer machen Schule“). Seit seiner Pensionierung war er an acht Berliner Schulen als Vertretungslehrer tätig.



Überwachungstechnologie in der Schule als KMK-„Bildungskonzept“

Kritische Anmerkungen zu den Vorstellungen der Kultusministerkonferenz zum „Lehren und Lernen in der digitalen Welt“.


Manfred Fischer, für Schulforum-Berlin, 18.04.2022

Analysiert wird der 34seitige Onlinebeitrag „Die ergänzende Empfehlung zur Strategie Bildung in der digitalen Welt[1], Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) vom 09.12.2021. Dazu werden Aussagen aus den Hauptkapiteln „Einleitung“, „Lernen“, „Lehren“, „Weitere Arbeitsschwerpunkte“ zitiert, die die Vorgaben der KMK zum „digitalen Lehren und Lernen“ charakterisieren, um so die Zielrichtung der „Empfehlung“ zu verdeutlichen.

Es ist unverkennbar, dass durch die „Empfehlung“ administrativer Druck auf die Schulverwaltung, Schulen sowie Lehrerinnen und Lehrer ausgeübt werden soll, denn umgesetzt werden soll eine ganz neue Lehr- und Lern“kultur“. Diesen administrativen Druck[2] forderte schon Jacob Chammon, Vorstand des Netzwerks Forum Bildung Digitalisierung, einer Initiative von neun Bildungsstiftungen[3] – ebenso wie Andreas Schleicher, OECD-Bildungsdirektor und Koordinator der internationalen Pisa-Studien. Das Forum sowie die unternehmensnahen Stiftungen geben entsprechende „Empfehlungen, erarbeiten praktische Lösungen und leisten Orientierungshilfe für schulische Veränderungsprozesse.“[4] Ihre „Empfehlungen“ sind passgenau ausgerichtet an den Medien- und IT-Produkten der jeweiligen Technologieunternehmen im Hintergrund.

Als erfolgversprechend für das Lernen und Lehren gilt, so die KMK-Autoren[5], wenn die Schulen auf eine mit „technologiebasierten Innovationen“ (S. 4) gestaltete „Bildungs“-Revolution setzen. Gefordert wird, dass „in jedem Unterricht an allen Schulen die Potenziale der digitalen Technologien durchgehend zu nutzen“ (S. 8) sind – ganz im Sinne der antreibenden Education Technology-Akteure.[6]

Einleitung

In ihrem Beschluss vom 9.12.2021 erweitert die KMK die 2016 gefasste Definition des Digitalisierungsprozesses. Sie suggeriert, dass „Die ergänzende Empfehlung zur Strategie Bildung in der digitalen Welt“ den Weg aufzeigt vom „Lehren und Lernen mit digitalen Medien und Werkzeugen” hin zum „Lernen und Lehren in einer sich stetig verändernden digitalen Realität, die als `Kultur der Digitalität´ insbesondere in kulturellen, sozialen und beruflichen Handlungsweisen deutlich wird und wiederum Digitalisierungsprozesse auslöst“ (S. 3).

Um die Herausforderungen für das Lernen und Lehren in der digitalen Welt wie den „Umgang mit Heterogenität“, den „Abbau von Bildungsungleichheit“ oder die „Öffnung und Flexibilisierung von Bildungswegen“ bewältigen zu können, sieht die KMK „technologiebasierte Innovationen“ (S. 4) als Lösung. Auch wird gefordert, dass die Impulse zur Digitalisierung der Schulen – bedingt durch den mit der „Corona-Pandemie einhergegangenen Digitalisierungsschub“ – „aufzugreifen, weiterzuentwickeln und nachhaltig für eine `neue Normalität´ zu verankern“ (S. 4) sind.

Es erstaunt nicht, dass sich der Vorstand des Netzwerks Forum Bildung Digitalisierung, Jacob Chammon, ähnlich dazu äußert: „Es müsste eine klare Ansage der Schulverwaltung kommen, dass es [nach Corona] kein ‚back to normal‘ geben darf. Bei der nächsten Schulinspektion sollte überprüft werden, wie die Schulen das, was sie über das digitale Lernen gelernt haben, im normalen Schulalltag umsetzen.“[7]

Was unter einem „normalen Schulalltag“ mit den „technologiebasierten Innovationen“ zu verstehen ist, wird bereits in der am 1.7.2021 veröffentlichten Trendstudie „KI@Bildung“[8] der Telekom-Stiftung mit dem Titel „Lehren und Lernen in der Schule mit Werkzeugen Künstlicher Intelligenz“ deutlich. Gefordert werden dort „KI-gestützte, lernförderliche Technologien, d.h. Lösungen, die auf Technologien wie Machine Learning[9], Educational Data Mining[10] oder Learning Analytics[11] basieren.“ Es wird behauptet, dass diese „erhebliche Potenziale für alle Bereiche der schulischen Bildung“ bieten, so z.B. durch „intelligente Lernanwendungen“, indem individualisiertere Lernformen und Assistenzsysteme[12] sowie automatisierte Leistungsbewertungen, Lernempfehlungen und Prognosen realisiert würden. Weiter wird hervorgehoben, dass im Unterrichtsgeschehen neue Formen des Assessments[13], Gradings[14], Tutorings[15] und Classroom-Managements[16] möglich werden. Mit Hilfe von Data Mining und Analytics könnten auf der Schul-Organisations-Ebene z.B. Evaluations- und Planungsprozesse optimiert werden. Vor allen Dingen, so wird in der Studie „KI@Bildung“ gefordert, sollte „auch die praktische Erprobung und `Erdung´ [d.h., der dauerhafte Einsatz] dieser Technologien im Schulalltag ermöglicht und systematisch evaluiert werden.“[17]

Bei der Arbeit mit digitalen Medien und Werkzeugen fallen eine Unmenge von Daten an, die sich unterschiedlich auswerten und nutzen lassen. Dazu lautet die Forderung der KMK: Die „Bildungseinrichtungen müssen dieser wachsenden Bedeutung von Bildungsdaten und Bildungsdokumentation Rechnung tragen und die Vor- und Nachteile, u. a. welche Rolle Algorithmen[18] bei didaktischen und pädagogischen Entscheidungen spielen könnten, entsprechend abwägen“ (S. 5).

Wie eine „Abwägung“ der Nutzung personenbezogener Daten, hier verschleiernd als „Bildungs“daten und „Bildungs“dokumentation bezeichnet, vorzustellen ist, beschreibt der ehemalige Berliner Bildungssenator Jürgen Zöllner, heute aktiv in der Wübben Stiftung: „Datenschutz ist zum Kult geworden, der zum Selbstzweck mutiert“. Weiter führt er aus, dass „innovative Schulen mit ebensolchen Lehrkräften […] mit absurden bürokratischen und datenschutzrechtlichen Steinen, die ihnen in den Weg gelegt werden“, zu kämpfen hätten.[19] Deutlich wird, dass heute ein ehemaliger Bildungspolitiker als „Echokammer“ der Interessen von internationalen Education Technology-Unternehmen fungiert. Zur Erinnerung: Die Wübben Stiftung ist Mitglied im Netzwerk „Forum Bildung Digitalisierung“.[20]

Angesichts des Einsatzes „KI-gestützter technologiebasierter Innovationen“ in einer sich „stetig verändernden digitalen Realität“ (S. 3), muss bezweifelt werden, ob der Schutz der „Bildungsdaten“ unserer Schülerinnen und Schüler für die KMK-Autoren wirklich von Bedeutung ist, auch wenn sie schreiben: „Daten dürfen nur für Verwendungszwecke genutzt werden, die vor ihrer Erfassung festgelegt worden sind, und es ist auch zu definieren, wer mit welchem Ziel die Daten nutzen kann“ (S. 5 f.).

Lernen                         

Die KMK-Autoren schreiben, trotz der von ihnen hervorgehobenen Bedeutung der digitalen Technologien und der von ihnen vorgegebenen „Potenziale“ für das Lernen, dass Lernen ein „sozialer Prozess“ ist und fügen hinzu, dass in diesem Prozess „Beziehungen zu Lehrenden und weiteren Lernenden entscheidend sind“ (S. 7). Auch hier ist für das Vorgehen der KMK-Autoren festzuhalten, dass ein Kernelement „guten Unterrichts“, die Beziehung beim Lernen[21], deren Qualität zu den wirkmächtigsten Einflüssen auf die Lernleistung zählt, nur erwähnt, aber nicht deren wirkliche Bedeutung erfasst und beschrieben wird. Deutlich wird die Absicht und das verschleiernde Vorgehen, wenn sie fordern: „Zukünftig gilt es, in jedem Unterricht an allen Schulen die Potenziale der digitalen Technologien durchgehend zu nutzen“ (S. 8) […], beginnend mit „angepassten Lernsettings“ in der „Primarstufe“ und eingebunden in den „Alltag“ aller Schülerinnen und Schüler. Die KMK-Autoren führen weiter aus, dass dies „eine wichtige Grundvoraussetzung für Bildungsgerechtigkeit ist“ (S. 8), um auf diesen Kompetenzen an den weiterführenden Schulen aufbauen zu können. 

Auf den folgenden Seiten des Onlinebeitrages berichten die Autoren, oft im Konjunktiv, über die „möglichen Potenziale“[22] der digitalen Medien und Werkzeuge für das Lehren und Lernen in der digitalen Welt – wohl wissend, dass die Wirksamkeit der entsprechenden Produkte auf dem „unübersichtlichen Markt […] allerdings kaum geprüft“[23] wurde. Dies stellte die „Ständige wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz“ selbst fest.

Trotz der vielen Erfolgsversprechen der „Wirkung der digitalen Tools“ ist festzuhalten: Es gibt keine kontrollierten Studien über die Wirksamkeit der digitalen Lernwerkzeuge. Auch fehlen Studien zur Belastbarkeit, d.h. zur Glaubwürdigkeit der Aussagen zu den Lehr- und Lernprodukten. Die Erfolgsversprechen basieren auf Aussagen einzelner Akteure und Lobbyisten oder entspringen der werbewirksamen Produktbeschreibung der Hersteller.[24] 

Obwohl diese Zusammenhänge bekannt sind, fahren die KMK-Autoren mit der Aufforderung fort: „Insgesamt sind aktuelle Entwicklungen und Ansätze wie z.B. adaptive und flexible Lernsysteme (intelligente tutorielle Systeme), Gamification[25], unterstützende Techniken wie z.B. Augmented-Reality[26] und Virtual-Reality[27] zu beachten, zu reflektieren und einzubeziehen“ (S. 12). Sie weisen darauf hin, dass bei dieser Technikunterstützung „dem Aspekt der Lernbegleitung und der (Selbst-)Reflexion eine besondere Bedeutung“ (S. 12) für die Lehrkräfte zukommt. Als Ausgangspunkt für weitere technologiebasierte Innovationen sollen „[g]ute Beispiele aus den [Bundes]Ländern sowie wissenschaftliche Erfahrungen und Erkenntnisse“ (S. 14) einbezogen werden. Dazu geben die Autoren keine Quellen an.            

Die KMK-Autoren bemerken: „Die Potenziale der Digitalität entfalten sich nicht automatisch, sondern vor dem Hintergrund der Qualitätsmerkmale guten Unterrichts“ (S. 12).

Auch hier, wie im folgenden Kapitel „Lehren“ umgehen die Autoren eine Auseinandersetzung mit den Inhalten der „Qualitätsmerkmale guten Unterrichts“[28] und deren Umsetzung.

Die Basisdimensionen für die „Qualitätsmerkmale guten Unterrichts“: „Gute Klassenführung“, „Konstruktive Unterstützung“ und „kognitive Aktivierung“ der Schülerinnen und Schüler, sind für die KMK-Autoren nur ein kurzer Hinweis, denn die angeblichen „Potenziale“ der „technologiebasierten Innovationen“ sollen auch hier Top-Down umgesetzt werden, wie im nächsten Kapitel deutlich wird.

Lehren

Die KMK-Autoren beginnen diesen Abschnitt mit der Feststellung, dass hinsichtlich der erfolgreichen Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen die Lehrkräfte und ihre professionellen Kompetenzen von zentraler Bedeutung sind. Das jedoch erfordere bei zunehmender Relevanz digitaler Medien und Werkzeuge im Unterricht eine kontinuierliche Professionalisierung, die sich durch die sich ständig verändernden technischen und pädagogischen Entwicklungen notwendig wird. Dieser Professionalisierungsprozess erstrecke sich über die „gesamte Berufsbiografie einer Lehrkraft“ (S. 17) und sei als „kontinuierlicher Schulentwicklungsprozess“ (S. 17) zu betrachten. Eine nachhaltige Wirkung könne sich einstellen, wenn dieser „langfristig angelegt ist, realistische Entwicklungsziele verfolgt, die gesamte Schulgemeinschaft einbindet, von der Mehrheit des Kollegiums getragen wird und mit Ressourcen [!] hinterlegt ist“ (S. 17). Hierbei sollen die Schulen durch die Schulaufsicht beim „digitalisierungsbezogenen Innovations- und Changemanagement“[29] (S. 19) unterstützt werden.

Da jedoch die Entscheidungen zum „Lehren und Lernen in der digitalen Welt“ schon längst im Vorfeld gefallen sind, sollen diese durch „geschickte“ Steuerung im Kollegium um- und durchgesetzt werden. Durch das manipulative Vorgehen beim Changemanagement wird der Anschein erzeugt, das Kollegium selbst hätte sich auf den Weg gemacht, die Schule im Sinne des „kontinuierlichen Schulentwicklungsprozesses“ zu verändern.[30] Deutlich wird: „Lehrer sollen wollen, was sie sollen!“[31]

Auf den folgenden Seiten des KMK-Beitrags werden „weitere Empfehlungen zum Einsatz von digitalen Lernumgebungen in Lehr-Lern-Prozessen“ (S. 21) beschrieben. In den Empfehlungen und Beispielen geht es z.B. darum, eine Lehr-Lernkultur zu entwickeln, selbstgesteuertes Lernen zu fördern, Lernprozesse zu begleiten, Verhaltensregeln für Interaktions- und Kommunikationsprozesse zu erarbeiten und anzuwenden, Lern- und Videoplattformen für die Gestaltung und Realisierung von Lehr-Lern-Prozessen zu nutzen, Feedback regelmäßig einzuholen, Zusammenarbeit auch über die Schulgrenzen hinweg zu ermöglichen, den Kompetenzstand aller schulischen Akteure regelmäßig zu reflektieren und weiterzuentwickeln, digital unterstützte Verfahren zur formativen[32] und summativen Diagnostik zu entwickeln und zu implementieren, digitale Lernumgebungen in die Lernplattformen zielgerichtet anzubinden und die Potenziale des Marktes der Bildungsmedien aufzugreifen, ein länderübergreifendes Monitoringkonzept[33] der zentralen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrkräfte sollte diskutiert und möglichst verankert werden (vgl. S. 21-33).

Auch wenn die KMK-Autoren schreiben, dass „neben dem avisierten Potenzial und der technischen Realisierung – vor allem auch der Schutz der Persönlichkeitsrechte der Lernenden und Lehrkräfte“ (S. 32) handlungsleitend sein sollen, bleibt unberücksichtigt, dass die durch die digitalen Medien und Tools vielfältig gesammelten Daten nicht nur bei Schulen, sondern – so gewollt – bei den Startups und EdTech-Unternehmen landen. Vorgegeben wird, damit den individuellen Lernprozess der zuvor lückenlos vermessenen Schülerinnen und Schüler zu optimieren. Für diesen wie auch die anderen genannten Prozesse bedarf es einer Unmenge personenbezogener Daten – dem „Schmierstoff“ dieses digitalen Bildungsmodells. Die KMK-Autoren beachten nicht, dass die Schaffung einer den gesamten Bildungsweg durchziehenden, personenbezogenen, unkontrollierbaren Datensammlung erhebliche pädagogische und ethische Konsequenzen mit sich bringt.[34] Bereits zum jetzigen Zeitpunkt sind die damit einhergehenden Risiken erkennbar. Nicht umsonst hat die EU-Kommission KI-Systeme in der Bildung als hochriskant eingestuft.[35] Denn wer die Technik bestimmt, hat die Kontrolle und macht die Regeln.

Abschließend ist festzuhalten, dass das von der KMK propagierte Modell „Bildung in der digitalen Welt“ gleichzusetzen ist mit den digitalen „Bildungs“bestrebungen der Education Technology-Unternehmen und deren Geschäftsmodell. Damit ist die KMK „Türöffner“ für die „Steuerung der Lehr-Lernprozesse mit Künstlicher Intelligenz“, „Überwachungstechnologie“, „Datenkumulation und Ranking“ im Klassenzimmer.

Ist etwa eine Realisierung dieses „Bildungs“modells im Sinne unserer Schülerinnen und Schüler?

Oder anders gefragt: Wem nutzt es?

Beitrag als PDF-Datei


[1] KMK Onlinebeitrag, 9.12.2021: Die ergänzende Empfehlung zur Strategie „Bildung in der digitalen Welt“

[2] Tagesspiegel, 20.09.2021, Amory Burchard, Bildungsexperten warnen vor Rückkehr zum klassischen Frontalunterricht.

[3] Zum Forum gehören: Die Deutsche Telekom Stiftung, die Bertelsmann Stiftung, die Robert Bosch Stiftung, die Siemens Stiftung, die Dieter Schwarz Stiftung, die Joachim Herz Stiftung, die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft, die Stiftung Mercator und die Wübben Stiftung.

[4] Siehe auch: https://schulforum-berlin.de/die-bildungs-stiftungen-als-tueroeffner/

[5] Die Autoren des KMK-Beitrags werden nicht aufgeführt.

[6] Education Technology-Industry (EdTech-Industry) =  globaler Sektor digitaler Bildungstechnologien, der sich auf Unterrichtssoftware, Plattformen, Schulverwaltung und Steuerungsaufgaben bezieht.

[7] Tagesspiegel, 20.09.2021, Amory Burchard, Bildungsexperten warnen vor Rückkehr zum klassischen Frontalunterricht.

[8] KI Bildung Schlussbericht.pdf (telekom-stiftung.de) (S. 4). Siehe auch eine kritische Zusammenfassung: Künstliche Intelligenz in der Schule? | Schulforum-Berlin

[9] Die Fußnoten 9 bis 16 und 18 dienen der Begriffserklärung und sind im Original nicht enthalten:  Machine Learning ist ein Teilbereich der künstlichen Intelligenz (KI), der Systeme in die Lage versetzt, automatisch aus Erfahrungen (Daten) zu lernen und sich zu verbessern, ohne explizit programmiert zu sein. Es werden beispielsweise Regel- und Gesetzmäßigkeiten in den Daten erkannt und Aktionen daraus abgeleitet.

[10] Educational Data Mining ermöglicht, die im Zuge des „technologiebasierten“ Lernens anfallenden Unmengen an Daten – sei es zum Lernverhalten einzelner Schüler, dem Lernfortschritt der gesamten Klasse oder der Akzeptanz des Unterrichtskonzepts – zu ordnen und in Zusammenhang zu bringen, um sie für weitere Analysen und Prognosen zu nutzen. M. Ebner und S. Schön (Hrsg.)(2013): Einführung – Das Themenfeld „Lernen und Lehren mit Technologien“ | Ebner | Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien (tugraz.at)

[11] Learning Analytics hat die Interpretation der gesammelten Daten zum Ziel. Beim „technologiebasierten“ Lernen geht es darum, den individuellen Lernprozess zu optimieren. Dies geschieht nicht nur durch eine umfassende Abbildung des bisherigen Lernverhaltens, vielmehr sollen aus dem vorhandenen Datenbestand zugleich Erkenntnisse und Prognosen für die Zukunft abgeleitet werden.

[12] Assistenzsysteme umfassen alle Arten von Informationen, die einen Nutzer beim Gebrauch eines Produkts unterstützen.

[13] Assessment = Beurteilung, Bewertung der Fähigkeit, Einschätzung

[14] Grading = Bewertung, Benotung, Abstufung

[15] Tutoring = Methode der Lernunterstützung, bei welcher z.B. Peers als Co-Lehrende für Lernende tätig werden. Es soll Lernenden Selbstregulierung- und Kontrolle über ihr eigenes Lernen vermitteln.

[16] Classroom-Management, siehe nachfolgend im Text unter TALIS-Videostudie, „Gute Klassenführung“, S. 6.

[17] KI Bildung Schlussbericht.pdf (telekom-stiftung.de) (S. 37).

[18] Der Algorithmus umschreibt eine genau definierte Folge von Anweisungen (ersichtlich z.B. aus einem „Programmablaufplan“) mit denen ein bestimmtes Problem gelöst werden kann.

[19] Jürgen Zöllner, Impaktmagazin Spezial, 8/2021, Bildungspolitik in Zeiten der Pandemie …, S. 13-15

[20] Annina Förschler (2018): „Das ‚Who is who?‘ der deutschen Bildungs-Digitalisierungsagenda – eine kritische Politiknetzwerk-Analyse“. In: Pädagogische Korrespondenz, 58/18: S. 31-52. Siehe auch: Das „Who is who?“ der deutschen Bildungs-Digitalisierungsagenda | Schulforum-Berlin

[21] Krautz, Jochen, „Zur Erinnerung: Bildendes Lernen braucht Schule und Unterricht“

[22] Siehe dazu die Studie: Balslev, Jesper (2020): Evidence of a Potential. Eine Kernaussage: Das Hauptargument für die Digitalisierung ist das „geschätzte Potenzial“ das in der Digitalisierung steckt, die vermuteten, aber noch nicht wissenschaftlich belegten Vorteile.

[23] Ständige wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK), Stellungnahme zur Weiterentwicklung der KMK-Strategie „Bildung in der digitalen Welt“, Bonn/Berlin, 7.10.2021, S. 24

[24] Siehe dazu die Besprechung der Studien für Schulforum-Berlin: „Personalisiertes Lernen mit digitalen Medien. Ein roter Faden“ der Robert Bosch Stiftung (2018) sowie KI@Bildung – Lehren und Lernen in der Schule mit Werkzeugen Künstlicher Intelligenz – Schlussbericht – der Deutschen Telekom Stiftung (2021)

[25] Die Fußnoten 25 bis 27 dienen der Begriffserklärung und sind im Original nicht enthalten: Gamification ist die Übertragung von spieltypischen Elementen und Vorgängen in spielfremde Zusammenhänge mit dem Ziel der Verhaltensänderung und Motivationssteigerung bei Nutzern.

[26] Unter Augmented-Reality versteht man das Zusammenspiel von digitalem und analogem Leben. Das funktioniert manchmal über die Kamera des Smartphones aber zumeist über eine Brille. Über diese werden zusätzliche Informationen über das Umfeld des Nutzers eingeblendet.

[27] Virtual-Reality (VR) bezeichnet ein digitales, am Computer geschaffenes Abbild der Realität. VR-Brillen lassen den Nutzer in eine neue, künstlich erschaffene Welt eintauchen.

[28] Die TALIS-Videostudie Deutschland greift diese drei Basisdimensionen des Unterrichts auf, um Unterricht zu beschreiben und seine Wirkungen zu untersuchen. Sie ist die erste internationale Untersuchung, die einen Blick in Klassenzimmer auf drei Kontinenten wirft und zugleich Aussagen zu den Wirkungen des Unterrichts, zu Lernprozessen und Lernergebnissen der beteiligten Schüler*innen gestattet. Grünkorn, Juliane [Hrsg.]; Klieme, Eckhard [Hrsg.]; Praetorius, Anna-Katharina [Hrsg.]; Patrick Schreyer [Hrsg.]: Mathematikunterricht im internationalen Vergleich. Ergebnisse aus der TALIS-Videostudie Deutschland. Frankfurt am Main: DIPF, Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, 2020, S. 6.

Siehe auch die Kurzfassung: Mathematikunterricht im internationalen Vergleich. | Schulforum-Berlin

[29] Unter Change Management versteht man die systematische Planung und Steuerung von Veränderungen z. B. von Organisationsstrukturen oder Prozessen. (…) Zur Erhöhung der Akzeptanz werden insbesondere psychologische Faktoren berücksichtigt. (…) Ein Change Manager muss die Auswirkungen des Wandels abschätzen und zu erwartende und auftretende Widerstände identifizieren und gegensteuern. (…) Damit Veränderungsprojekte ernst genommen werden, müssen sie vom Willen zur Durchsetzung der Veränderung getragen sein. (…) Die Führungskräfte sind es, die die Beschäftigten „ins Boot holen“ müssen. (…) Bei Veränderungsvorhaben, die politisch vorgegeben werden, hat die Notwendigkeit zur Veränderung den Charakter eines Auftrages, der erfüllt werden muss. (…) Aus: Verwaltung innovativ – Change Management (verwaltung-innovativ.de). Siehe auch: Das Phänomen und die Praktiken des change-managements | Schulforum-Berlin

[30] Vgl. Bernd Schoepe, Cancel Culture macht Schule!, S. 10

[31] Jochen Krautz, Matthias Burchardt (Hrsg.) (2018): Time for Change? – Schule zischen demokratischem Bildungsauftrag und manipulativer Steuerung, S. 22

[32] Formative Diagnostik oder auch Lernverlaufsdiagnostik wird während des Lernprozesses regelmäßig eingesetzt, um den Lehr- und Lernprozesse zu steuern, zu begleiten oder auch zu optimieren.

[33] Monitoring ist die Überwachung, Messung, Erfassung eines Vorgangs oder Prozesses mittels technischer Hilfsmittel oder anderer Beobachtungssysteme.

[34] Vgl. Siegrid Hartong u.a. (2021): Unblack the Box, Anregungen für eine (selbst)bewusste Auseinandersetzung mit digitaler Bildung. In: Lankau, Ralf (Hrsg.): Autonom und mündig am Touchscreen, Weinheim und Basel: Beltz, S. 201 – 212.

[35] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.3.2022, Lisa Becker, „Wenn die neue Lehrkraft eine KI ist“.

Manche Bildungsakteure vermitteln den Eindruck, die Absenkung des Niveaus sei völlig in Ordnung.

Mach’s leichter, wenn es zu schwierig wird

Schwinden die Kompetenzen, senken wir die Anforderungen. Aber wissen wir auch, was wir damit auslösen? Von Felix Heidenreich

Neue Zürcher Zeitung, 08.03.2021

Der amerikanische Golfverband lässt verlauten, man habe möglicherweise eine Strategie gefunden, um dem schwindenden Interesse der amerikanischen Jugend am Golfsport entgegenzuarbeiten: grössere Löcher. [15-Inch-Cups (38 Zentimeter)]

Man könnte lachen, würde sich diese Nachricht nicht so nahtlos in eine ganze Serie ähnlicher Neuigkeiten einreihen. An deutschen Grundschulen verschwindet beispielsweise nicht nur die Rechtschreibung, sondern gleich die Handschrift.

Die «vereinfachte Schreibschrift» soll den Schülern mit einer Art Synthese von Druckschrift und Schreibschrift den Einstieg erleichtern. Diese bereits erheblich reduzierte «vereinfachte Handschrift» wird wohl langfristig dem Schreiben in Blockbuchstaben weichen, das in den USA längst üblich ist – mit weitreichenden Konsequenzen für die Hand-Auge-Koordination.

Pessimistische Hirnforscher gehen davon aus, dass die anspruchsvolle Arbeit von Chirurgen um die Mitte des Jahrhunderts nur noch von Asiaten ausgeübt werden kann, die durch das Erlernen der komplizierten Schriftzeichen eine bessere Hand-Auge-Koordination ausbilden. Auch die Einführung des Lernprinzips «Schreiben, wie man hört» führt an deutschen Schulen zu bleibenden orthographischen Kalamitäten.

Ach, die Jugend

Diesen Beobachtungen könnte man mit der Anekdote entgegentreten, wonach der früheste erhaltene Papyrus aus dem alten Ägypten die Verzogenheit der Jugend und den zu erwartenden Niedergang der Kultur beklagt. Aber das «Immer-schon-Argument» ist womöglich zu einfach, um wahr zu sein. Denn die These lautet ja nicht, dass die Jugend (und nicht nur diese) den Ansprüchen nicht mehr genügt, sondern dass die Ansprüche systematisch den schwindenden Kompetenzen angepasst werden.

Diesen Prozess mit kulturpessimistischem Gestus zu beklagen, greift zu kurz. Er hat konkrete Ursachen: Mit der Bildungsgerechtigkeit steht es in Deutschland schlecht. Die Corona-Krise macht auch hier bereits lange bestehende Probleme wie unter einem [Vergrößerungs]glas sichtbar. Vor allem aber: Der Prozess lässt sich nicht von aussen beobachten.

Jeder, der hier das Wort ergreift, ist längst selbst Teil des Prozesses und spricht nicht von den anderen, möglicherweise von jüngeren Generationen, sondern immer auch schon von sich selbst. Sprachliche Schludrigkeiten, Unkonzentriertheit, der Mangel an handwerklicher Expertise, die Zunahme des nur vermittelt «Angelesenen» – all diese Phänomene betreffen uns alle. […]

Unsere Kinder lernen nicht mehr schreiben, weil sie es ja nicht können müssen. Bald werden sie wohl auch nicht mehr tippen müssen, sondern Spracherkennungsprogramme bedienen. Entsprechend schwindet die Notwendigkeit von Fremdsprachenkenntnissen oder einer musikalischen Ausbildung. […]

Nein, früher war weder alles besser noch «mehr Lametta», wie Loriot sagen würde. Und doch müssen wir feststellen, dass die Baselines sich in eine ungute Richtung bewegen. Bald werden unsere Kinder keine Lehrer mehr haben, denen am Satz «Ich erinnere es; es war in 2011» irgendetwas auffällt. […]

PD Dr. Felix Heidenreich lehrt Politikwissenschaft an der Universität Stuttgart. Er ist Wissenschaftlicher Koordinator am Internationalen Zentrum für Kultur und Technikforschung der Universität Stuttgart (IZKT)

Zum Artikel: Mach’s leichter, wenn es zu schwierig wird


Erleichterungspädagogik

Konrad Paul Liessman stellt zur „Reduktion und Vereinfachung“ der Sprache und dem „Entgegenkommen, vor allem wenn es auch als Unterrichtsprinzip reüssieren sollte“, die Frage:
„[B]edeutet eine stark vereinfachte Sprache nicht auch ein stark vereinfachtes Bewusstsein?“ (S. 134)
Und er fährt weiter fort:
„Lesen und Schreiben sind Kulturtechniken, deren grundlegende Beherrschung unerlässlich ist. Dass der Erwerb dieser Techniken nicht jedem leichtfällt, ist kein Grund, das Betrachten von Bildern zu einem Akt des Lesens und das Ankreuzen von Wahlmöglichkeiten zu einem Akt des Schreibens hochzustilisieren. Besser wäre es, all jene, die Schwierigkeiten beim Erwerb dieser Fähigkeiten haben, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen, damit sie wirklich lesen und schreiben lernen. (S. 147)
Aus: Liessmann, Konrad Paul (2014): Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Prof. Liessmann lehrt Philosophie an der Universität Wien.


Bereits am 11.05.2014 schrieb Harald Martenstein über die Schulpolitik in der Hauptstadt im Tagesspiegel:
Die Berliner Schüler werden von gleichgültigen und skrupellosen Politikern und Bürokraten nicht aufs Leben vorbereitet. Alles was auf sie wartet, ist eine Katastrophe.

Der Tagesspiegel hat in der vergangenen Woche gemeldet, dass an den Berliner Schulen die Leistungsanforderungen ein weiteres Mal gesenkt werden. In der Vergangenheit gab es in Berlin nämlich, verglichen mit anderen Bundesländern, hohe Durchfallquoten bei den Abschlussprüfungen. Um das Problem zu lösen, haben sie durch einige Verwaltungsmaßnahmen das Durchfallen nahezu unmöglich gemacht. Eine „5“ in Mathematik können die Schüler beim mittleren Abschluss zum Beispiel mit einer „3“ in Deutsch ausgleichen, früher war eine „2“ notwendig. […] Um zu erreichen, dass wirklich jeder Schüler im Fach Deutsch eine „3“ erreichen kann, wurde der schriftliche Anteil der Prüfung, also Diktate, Aufsätze und dergleichen, auf nahezu null zurückgefahren. Es genügt offenbar, einige Worte sprechen zu können. Vielleicht wird daraus eine Art Sport unter den besonders ehrgeizigen Schülern – wer schafft es, sogar in Berlin durch die Prüfung zu fallen? […]

Schüler, die nicht lernen mussten, sich anzustrengen. Schüler, die fast nichts wissen. Schüler, denen niemand die Chance gegeben hat, an Misserfolgen zu wachsen. Schüler, die nach vielen vergeudeten Jahren ein Zeugnis in der Hand halten, das wertlos ist. Kein Unternehmen wird das Zeugnis ernst nehmen. Wer eine Stelle will, muss erst mal eine Prüfung absolvieren, diesmal eine echte, keine Berliner Pseudoprüfung. Das hat der Schüler aber nicht gelernt. […] Hinter der Schulreform steckt nicht Menschenfreundlichkeit. Es stecken Gleichgültigkeit und Skrupellosigkeit dahinter. Hauptsache, unsere Statistik stimmt, 98 Prozent erfolgreiche Prüfungen. […]

zum Artikel:  Der Tagesspiegel, 11.05.2014, Harald Martenstein, Berliner Niveaulimbo