Der Mythos von der „digitalen Bildung“

Handy-Verbot an Frankreichs Schulen: Deutschland sollte nachziehen!

NachDenkSeiten, 9. 8. 2018, Tobias Riegel

Bald geht die Schule wieder los – und damit die alte Debatte um die Nutzung privater Handys in deutschen Schulen. Frankreich hat kürzlich mit einem neuen Gesetz die Nutzung von Mobiltelefonen in allen Schulen von der ersten bis zur zehnten Klasse grundsätzlich verboten. In Deutschland fordern dagegen manche neoliberale Bildungspolitiker, private Handys sogar im Unterricht als „Recherchewerkzeug“ einzusetzen. Alle sozialen und pädagogischen Argumente sprechen aber dafür: Die deutschen Schulen sollten dem konsequenten französischen Beispiel folgen und die Handys verbannen! […]

Diese konsequente Regel sollte auch an deutschen Schulen gelten – aus sozialen und pädagogischen Gründen und aus solchen der Rechtssicherheit.

In Deutschland ist es den Schülern jedoch meist nur verboten, das Smartphone während des Unterrichts privat zu benutzen. Anders als im eher zentral organisierten Frankreich gibt es hierzulande zudem keine einheitliche Regelung, wie etwa die Nachrichtenagentur dpa schreibt: Die Schulen fallen in die Zuständigkeit der 16 Bundesländer. Und selbst die Länder würden solche Fragen nicht immer zentral per Gesetz regeln, sondern das den einzelnen Schulen und den dort gültigen Hausordnungen überlassen. […]

Neoliberale Pseudo-Freiheit

Die Regel-Vielfalt – man könnte auch Regellosigkeit sagen – die allerorten Verunsicherung und Konflikte nach sich zieht, ist zudem Ausdruck eines neoliberalen Verständnisses der Pseudo-Freiheit: „Ich bin der Überzeugung, dass die Schulen selbst entscheiden sollten, ob es ein partielles oder ein generelles Verbot im eigenen Haus geben soll“, sagt etwa der Präsident der Kultusministerkonferenz (KMK), Thüringens Ressortchef Helmut Holter (Linkspartei). Diese Haltung gilt über die Parteigrenzen hinweg. Die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD) erklärt: „Die Schulleiterinnen und Schulleiter wissen am besten, wie sie vor Ort an ihrer Schule mit dieser Frage umgehen.“ Hamburgs SPD-Bildungssenator Ties Rabe hält das Vorgehen der Franzosen für „Quatsch“. Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU) betont: „So eine zentralstaatliche Vorgabe ist uns fremd.“ Das findet auch Sachsen-Anhalts Bildungsminister Marco Tullner (CDU): „Die Schulleitungen entscheiden das ganz individuell, was erlaubt und was verboten wird.“

Unsozial: Private Handys sollen „schlechte Ausstattung“ ausgleichen

Die Verteidiger der privaten Handy-Nutzung verwenden neben dieser Argumentation der „Wahlfreiheit“ das der schlechten Infrastruktur: Die Schulen seien technisch noch nicht gut genug ausgerüstet, um ganz auf Mobiltelefone zu verzichten, sagt Elternrats-Chef Stephan Wassmuth der dpa. […]

Diese Argumentation, die das private Handy zum Werkzeug des öffentlichen Unterrichts macht, ist unsozial: Was ist mit den Kindern, deren Eltern sich kein Smartphone leisten können – oder nur solche Geräte, die im Markenwettbewerb nicht mithalten können? Sie würden den Markenterror dann auch täglich im Unterricht spüren, nicht mehr nur auf dem Schulhof. Die sozialen Nachteile durch das Elternhaus würden sich in einen ganz konkreten Nachteil in der Klasse übersetzen, neben den Klamotten würde ein neues Feld der Ungleichheiten aufgemacht. Und: Es gibt auch Eltern, die ihre 11-jährigen Kinder aus guten pädagogischen Gründen noch keinem internet-fähigen Taschencomputer ausliefern wollen. All diese Eltern werden genötigt, gegen ihre finanziellen Zwänge oder pädagogischen Prinzipien zu handeln. Für sie verkehrt sich die neoliberale Pseudo-Wahlfreiheit in einen Zwang.

Kapitulation des Staates und Lockruf der Konzerne

Zum anderen ist die Forderung nach privatem Ausgleich staatlicher Defizite Ausdruck einer Unterwerfung. Sie ist eine Kapitulation vor der Schwäche eines Staates, der die Mittel zur Ausstattung seiner Schulen nicht mehr durch Steuern eintreiben kann oder will. Es wird nicht gefordert, dass diese Schwäche beseitigt wird, damit der Staat diese Aufgabe wieder übernehmen kann. Stattdessen wird sie zum einen als Argument genutzt, um „Eigeninitiative“ der Eltern zu fordern. Und zum anderen, um die Schulen und die Kinder bei der „Digitalisierung der Klassenzimmer“ Konzernen wie Microsoft oder Bertelsmann und ihrer großzügigen „Hilfe“ (und Indoktrination) auszuliefern.

Die dritte Verteidigungslinie beschreibt die Handy-Verbreitung und deren Nutzung als Naturgewalt, der man sich kampflos ergeben müsse: Ein Verbot wie in Frankreich sei utopisch, es sei nicht durchzusetzen und „man“ könne nicht die Zeit zurückdrehen. Stellvertretend schreibt die „Volksstimme aus Magdeburg: „ Es scheitert schon an der Durchsetzbarkeit. Wer soll die Einhaltung etwa in Pausen kontrollieren und welche Druckmittel hätten Schulen bei einem Verstoß?“

Auch diese Haltung ist Ausdruck einer Kapitulation vor der eigenen Gestaltungsschwäche. Schließlich gilt die Binsenweisheit: Banküberfälle sind auch nicht legal, nur weil man nicht alle aufklären, geschweige denn verhindern kann. Wie alle Regeln würde auch ein Handy-Verbot durch Kontrollen und Sanktionen durchgesetzt.

„Die Nutzung von Mobiltelefonen (Handy/Smartphone) und anderen mobilen elektronischen Geräte (z.B. MP3-Player, Walkman, Nintendo-DS, Gameboy, iPad/Tablet) ist innerhalb der Schulzeiten und auf dem Schulgelände nicht erlaubt. (…) Werden die Geräte dennoch benutzt bzw. sind nicht ausgeschaltet, dann können sie von Mitgliedern des Teams eingezogen werden. Das Gerät muss dann von einem Elternteil im Sekretariat abgeholt werden.“ [Textbeispiel einer Schule in Berlin-Pankow]

Der Mythos von der „digitalen Bildung“ auf dem Schulhof

Nicht zuletzt wird mit der angeblichen „digitalen Bildung“ argumentiert, die eine Handy-Nutzung auf dem Schulhof mit sich bringen würde. Die „Schwäbische Zeitung“ aus Ravensburg rückt das ins rechte Licht: „Allerdings bringt es nichts, die Kinder in ihren Klassen und auf dem Pausenhof mit ihrem Handy spielen zu lassen, denn sie nutzen dort nur Social-Media-Kanäle.“ Die Zeitung betont im Gegenteil die Pflicht der Schulen, Schutzräume vor gesellschaftlichen Defiziten zu gewähren: „Die Schule garantiert mit dem Handy-Verbot einen Freiraum von digitalem Zwang.“ Die heutigen Kinder sind außerdem bereits (technische) Medien-Profis, wenn sie die Schule betreten. Was ihnen fehlt, ist Orientierung bei der kritischen Überprüfung der mit dieser Technik generierten Inhalte und beim Erlernen respektvollen Miteinanders. Ein Handy-Verbot macht Erziehung zu Medien-Kompetenz und -Kritik nicht überflüssig.

Die Diskussion ist keine Gespensterdebatte: Die „Welt“ meldet am 31.07.2018, dass 84 Prozent aller Zwölf- bis 13-Jährigen ein Smartphone besäßen, so der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien, und 92 Prozent der 14- bis 19-Jährigen ihr Handy aktuellen Zahlen des Branchenverbandes Bitkom zufolge auch in der Schule dabei hätten. […]

Die Handy-Gegner haben die Wissenschaft auf ihrer Seite

So fand eine französische Studie von 2015 heraus: Handys und Smartphones aus der Schule zu verbannen, scheint beim Lernerfolg zu helfen, und zwar vor allem den „leistungsschwächeren” Schülern. Das ist das Fazit der Ökonomen Louis-Philippe Beland und Richard Murphy von der London School of Economics, die für ihre Untersuchung die Testergebnisse von 16-jährigen Schülern vor und nach der Einführung eines Handy-Verbots an der jeweiligen Schule verglichen hatten. Demnach stiegen die Leistungen um 6,4 Prozent, das sei vergleichbar einem Lernzuwachs, wie man ihn sonst nur mit fünf zusätzlichen Schultagen hätte herbeiführen können. Dabei hätten sich vor allem die „leistungsschwächeren“ Schüler verbessert, so die Studie. Bei ihnen sei der Einfluss des Handy-Verbots auf die Leistung fast doppelt so hoch wie bei jenen, die als „leistungsstark“ gelten würden.

zum Artikel: Handy-Verbot an Frankreichs Schulen: Deutschland sollte nachziehen!

Die Studie „Bring Your Own Device“ der Universität Hamburg, November 2016, kommt zu dem Ergebnis, dass die Nutzung mobiler IT-Geräte im Unterricht weder zu einer messbar höheren Leistungsmotivation, noch zu einer stärkeren Identifikation mit der Schule führt. (S. 42f) Auch eine höhere Informationskompetenz wurde nicht erreicht. (S. 92) Die Analyse der gewonnen Daten macht deutlich, dass mobile Endgeräte ein hohes Ablenkungspotenzial im Unterricht haben. (S. 80, 98) Auch gab es keine Hinweise, „dass die Schülerinnen und Schüler durch die Nutzung der Smartphones und anderer persönlicher Endgeräte innerhalb des Untersuchungszeitraums signifikant höhere Kompetenzniveaus erreichen konnten.“ (S. 109)

siehe auch: Kein Jugendschutz auf dem Pausenhof