Die Grundschule wird zum Sorgenkind

Deutsche Grundschüler fallen beim Lesen international zurück

Vorinformationen zum nachfolgenden Beitrag von Renate Valtin, ehemalige Professorin für Grundschulpädagogik an der Humboldt-Universität, Berlin: „Die Grundschule wird zum Sorgenkind“ im Tagesspiegel vom 27.07.2018. Alle nachfolgenden Daten und Abbildungen aus IGLU 2016, Pressemappe.  [IGLU = Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung]

Weltweit haben rund 313 000 Schülerinnen und Schüler, 300 000 Eltern, 16 000 Lehrerinnen und Lehrer sowie 11 000 Schulleitungen an IGLU 2016 teilgenommen. In Deutschland waren rund 4 000 Viertkläss­lerinnen und Viertklässler, ebenso wie rund 3 000 Eltern, 200 Deutschlehrkräfte und 190 Schulleitungen beteiligt. Die IGLU-Studie wird seit dem Jahr 2001 alle fünf Jahre erhoben. Die Viertklässler mussten kurze literarische Geschichten sowie Sachtexte lesen und dazu Fragen beantworten.

Ein Beispiel für einen Erzähltext und den Fragen in den verschiedenen Kompetenzstufen: (Mit „Doppel-Klick“ auf das Bild, kann die Schrift vergrößert werden)

IGLU-Kompetenzstufen und Beispielaufgaben: (V = höchste Kompetenzstufe)

2016 erreichen 18.9 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Deutschland nicht die Kompetenz­stufe III , das sind fast vier Prozent mehr als 2011. Diese Kinder verfügen über ein nicht ausreichendes Leistungsniveau im Lesen. Es ist davon auszugehen, dass sie mit erheblichen Schwierigkeiten beim Lernen in allen Fächern in der Sekundarstufe I konfrontiert sein werden. Schlechter als Deutschland sieht es EU-weit hierbei nur für Frankreich, das französischsprachige Belgien und Malta aus.

In IGLU 2016 erzielen rund 11 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Deutschland Leistungen, die dem Niveau der höchsten Kompetenzstufe V entsprechen. Diese Schülergruppe verfügt über Lesekompetenzen, die es ihnen ermöglichen, Bezug auf Textpassagen oder einen ganzen Text zu nehmen, darin enthaltene Informationen zu ordnen und Aussagen selbständig interpretierend und kombinierend zu begründen.

Rund 17 Prozent geben an, nie oder fast nie außerhalb der Schule zum Vergnügen zu lesen. Dieser Anteil hat sich im Vergleich zu 2001 nicht signifikant verändert. Allerdings ist der Anteil an Kindern, die jeden Tag oder fast jeden Tag zu ihrem Vergnügen lesen, signifikant um 5 Pro­zentpunkte gesunken, bei den Leseschwachen sind es 10 Prozentpunkte.

Es ist den deutschen Grundschulen nicht gelungen, bessere und motiviertere Leserinnen und Leser als bei der ersten Untersuchung 2001 zu gewinnen.

„Die Grundschule wird zum Sorgenkind“

Im Tagesspiegel vom 27.07.2018 nimmt Renate Valtin, ehemalige Professorin für Grundschulpädagogik an der Humboldt-Universität, im Beitrag: „Die Grundschule wird zum Sorgenkind“, dazu Stellung. Sie ist Mitglied im deutschen IGLU-Team und Vizepräsidentin der Europäischen Lesegesellschaften (FELA).

[…] Ungünstig sind zudem die Entwicklungen von Motivation und Leseverhalten. Immer weniger Kinder lesen täglich oder fast täglich zum Vergnügen. Auch die Lesedauer ist gering: 40 Prozent der Kinder lesen weniger als 30 Minuten pro Tag. Nur Kasachsten und Malta haben hier ähnlich ungünstige Werte.[…] Hinzu kommt, dass auch in der Schule wenig Leseunterricht erteilt wird. In 4. Klassen werden etwa 90 Stunden der Zeit für expliziten Leseunterricht, auch über Fächergrenzen hinweg, aufgebracht. Der internationale Mittelwert liegt bei knapp 160 Stunden. Zudem wird im Leseunterricht zu wenig Wert gelegt auf die Vermittlung von anspruchsvolleren Lesestrategien, also Methoden der Texterschließung und –verarbeitung.

Besonders beklagenswert ist das geringe Ausmaß der Förderung für leseschwache Schülerinnen und Schüler. Wie schon in IGLU 2006 zeigt sich, dass von den Leseschwachen nur jedes dritte Kind eine besondere schulische Förderung erhielt. […]

Es besteht also großer Handlungsbedarf. Da Lesenkönnen die Schlüsselkompetenz ist für lebenslanges Lernen, für gesellschaftliche, politische und kulturelle Teilhabe, geht es vor allem um die Sicherung eines qualitativ hochwertigen Leseunterrichts (deutliche Erhöhung des zeitlichen Anteils von Leseunterricht, der motivierender und kognitiv anregender werden muss), eine konsequente Förderung von Kindern mit schwacher Lesekompetenz und eine Verbesserung der Lehrerausbildung.

Sie beendet ihre Vorschläge zu einer Verbesserung der Leseleistung in der Grundschule mit der zutreffenden Aussage:
Angesichts des schon bestehenden Lehrermangels ist es fraglich, ob die Grundschule diesen Aufgaben in Zukunft besser gerecht werden kann.

Diese Aussage wird durch den nachfolgenden Beitrag „Deutsche Bildungsmisere: Totgeschwiegener Lehrermangel“ bestätigt.

Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

siehe auch: Tagesspiegel, 5.12.2017, Amory Burchard, Deutsche Grundschüler fallen beim Lesen international zurück