Bildungsgerechtigkeit: „Differenzierung nach Leistungsgruppen“

Was Risikoschülern hilft

Integratives Lernen ist für schwache Schüler weniger zuträglich. Die Aufteilung in Leistungsgruppen wäre viel gerechter.
F.A.Z. – BILDUNGSWELTEN, 15.11.2018, von Heike Schmoll

Vor kurzem hat der für Bildung bei der OECD Verantwortliche Andreas Schleicher zum wiederholten Mal eine Sonderauswertung der Pisa-Daten vorgestellt, in der er Deutschland eine bleibend hohe Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft attestiert. Seit Beginn der OECD-Studien stehen die Länder mit strikter und früher Aufteilung in weiterführende Schulformen im Rampenlicht der Kritik. Sie hätten ein deutlich geringeres Leistungsniveau, eine stärkere soziale Undurchlässigkeit und benachteiligten gerade die leistungsschwachen Kinder und die aus schwierigen Verhältnissen.

Doch Schleichers Ratschlag, Schulen in Problemvierteln besser auszustatten, wird in der Berliner Schulrealität täglich Lügen gestraft. Dort gibt es zusätzliche Lehrerstellen, mehr Geld und trotzdem keine Leistungsverbesserungen. Die betroffenen Schulleiter sagen offen, an Geld fehle es ihnen nicht, wohl aber an kompetenten Lehrern und an Sozialarbeitern. Doch dafür interessiert sich die OECD offenbar nicht, sie begnügt sich damit, kurzzeitiges öffentliches Aufsehen zu erregen.

Wie die Organisation arbeitet, konnte man zuletzt im Januar erleben, als eine Pisa-Sonderauswertung zur Resilienz erschien und Deutschland mit seiner anscheinend geradezu ständestaatlichen Sortierung in weiterführende Schulen wieder einmal der Buhmann zu sein schien. Wer dann das Originalpapier las, konnte nichts darüber finden, vielmehr war die übliche Deutung nur in die Presseerklärung eingefügt worden. Einige Anfragen an Andreas Schleicher und die Autoren der Studie blieben unbeantwortet.

Das eigentlich Skandalöse daran aber ist, dass die Pisa-Daten für die Beurteilung der Leistungsgerechtigkeit und des Einflusses der sozialen Herkunft gar nicht geeignet sind, weil sie die kognitiven Fähigkeiten der Schüler nicht erfassen, die Lernen und Bildungserfolg bestimmen. Gelegentlich ist das auch eingewandt worden. Gleichwohl wird ungebrochen behauptet, die Aufteilung in verschiedene Schulformen steigere nur die Bildungsungerechtigkeit und die höhere Bildung werde in Deutschland gewissermaßen vererbt. Das wird sie in der Tat insofern, als die kognitive Entwicklung nach sozialer Herkunft schon unterschiedlich ist. Doch das ist überall so, auch in Ländern mit völlig integrierten Systemen. Man müsste zeigen, dass sich der Effekt der sozialen Herkunft mit der Differenzierung in Schularten im Vergleich zur Integration verstärkt – wenn die Unterschiede in den kognitiven Fähigkeiten berücksichtigt werden. Nun hat der Mannheimer Soziologe Hartmut Esser Daten der „National Educational Panel Study“ (NEPS) ausgewertet, die die kognitiven Fähigkeiten der Kinder enthält und zu den wenigen Studien gehört, die den Übergang und die Leistungsentwicklungen über mehrere Klassen hinweg verfolgt. Die Standardposition, wonach die Differenzierung keine sonderlichen Effekte auf den Bildungserfolg habe, sondern nur den Einfluss der sozialen Herkunft verstärke, konnte er dabei widerlegen: Die Verteilung auf die verschiedenen Bildungswege, die Bildungsbeteiligung, wird mit der strikten Aufteilung nach den Fähigkeiten, speziell über die Verbindlichkeit der Empfehlungen, leistungsgerechter, und der Einfluss der sozialen Herkunft ändert sich dabei nicht.

Die „National Educational Panel Study“ (NEPS)] untersuchte die Frage: ob die Einschränkung der Wahlfreiheit beim Übergang in die Sekundarstufe durch die Verbindlichkeit der Empfehlungen der Schule die Einflüsse der vorherigen Leistungen einerseits und der sozialen Herkunft andererseits verändert. Das Ziel ist die Systematisierung verschiedener Ansätze und Befunde durch ein übergreifendes theoretisches Modell der Effekte der Differenzierung der Bildungswege nach den Leistungen und der empirische Test dieses Modells mit Daten der „National Educational Panel Study“ (NEPS) für die deutschen Bundesländer. Der zentrale Befund lautet: Die Verbindlichkeit verändert die Effekte der sozialen Herkunft auf den Übergang nicht, es verstärkt sich jedoch die Leistungsgerechtigkeit, verstanden als Kopplung des Übergangs an die Leistungen der Kinder in der Grundschule oder die kognitiven Fähigkeiten. Für das mit der Differenzierung verbundene Ziel einer Verstärkung der Effizienz des schulischen Kompetenzerwerbs über die kognitive Homogenisierung der Schulen und Schulklassen wären danach nicht die weitere Öffnung und Liberalisierung, sondern die Stärkung der Selektivität nach den kognitiven Fähigkeiten und Leistungen der Kinder angeraten, auch um Abweichungen des Übergangs von den Gymnasialempfehlungen nach unten zu verhindern – und das gerade für die talentierteren Kinder aus den unteren Schichten, die eine solche Empfehlung nach oben tatsächlich erhalten haben.
Aus: Leistungsgerechtigkeit und Bildungsungleichheit, Effekte der Verbindlichkeit der Grundschulempfehlungen beim Übergang auf das Gymnasium. Ein Vergleich der deutschen Bundesländer mit den Daten der „National Educational Panel Study“ (NEPS)

Daraus ließe sich schließen, dass es für die Leistungsgerechtigkeit und die Begrenzung des Einflusses der sozialen Herkunft nicht ratsam ist, den Elternwillen frei zu geben. Das sollte auch für die Abweichungen von den Grundschulempfehlungen nach unten gelten, wenn also Eltern ihr Kind trotz einer Gymnasialempfehlung nicht aufs Gymnasium lassen. Gerade die talentierten Kinder aus den unteren Schichten werden von ihren Eltern nicht dorthin gelassen – aus Vorsicht und weil sie nicht wissen, was auf sie zukommt.

Das hat Folgen auch für die Leistungen. Fehlplazierungen bei nicht leistungsgerechter Aufteilung führen nämlich dazu, dass die Schulklassen nicht kognitiv homogener werden, was eigentlich das Ziel der Differenzierung ist: Mit der Homogenisierung ließen sich die Curricula inhaltlich den unterschiedlichen Fähigkeiten und Interessen besser anpassen, etwa eher akademisch oder berufsbezogen, und der Unterricht darauf dann auch stärker fokussieren, wodurch die Leistungen im Vergleich steigen könnten.

Das scheint in der Tat so zu sein. Die Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) für die verschiedenen Bundesländer hat für 2009 gezeigt, dass strikter differenzierende Bundesländer wie Bayern, Sachsen und früher auch einmal Baden-Württemberg deutlich bessere Leistungen hervorbrachten, gerade bei den leistungsschwächeren und den Migrantenkindern, als Berlin, Bremen und auch Hessen mit einem liberaleren System der Aufteilung. In Baden-Württemberg haben sich nach dem IQB-Bericht für das Jahr 2015 die Leistungen in allen Dimensionen erheblich verschlechtert. „Durchgehend ungünstige Veränderungen zeigen sich nur in einem Land (Baden-Württemberg)“, hielten die Forscher damals fest.

Dieser Befund zeigt sich nun auch allgemein und unter Kontrolle aller wichtigen Bedingungen durch NEPS-Daten: Mit der strikten Differenzierung nach den Fähigkeiten steigen die Leistungen, und es gibt auch hierfür keine stärkeren Effekte der sozialen Herkunft als in integrierten Systemen. Der wichtigste Mechanismus dafür ist wirklich die kognitive Homogenität. Sie führt immer zu höheren Leistungen, also auch in integrativen Systemen. Am günstigsten aber ist die Kombination von kognitiver Homogenität der Schulklassen und der weiteren Homogenisierung durch eine strikte Differenzierung.

Zu erwähnen ist, dass von diesen Effekten nicht – wie mancher jetzt meinen könnte – nur die leistungsstarken Kinder profitieren, sondern gerade die leistungsschwachen. Anders als gedacht haben die eher leistungsschwächeren Kinder also nichts von der Heterogenität, eher im Gegenteil. Sie kommen mit einem sehr heterogenen Umfeld schlecht zurecht. Bei den besonders Leistungsstarken ist es etwas anders: Für sie ist es gleichgültig, wie homogen die schulische Umgebung ist, sie profitieren sogar leicht davon, wenn es heterogener wird.

Was in früheren Gesamtschulstudien der siebziger Jahre schon einmal belegt wurde, lässt sich nun also auch mit den Daten des NEPS belegen: Integrative Systeme sind für die schwächsten Schüler am wenigsten zuträglich, die leistungsstarken können mit Komplexität viel besser umgehen und zuweilen sogar davon profitieren. Die Schwächsten dagegen geraten rasch ins Hintertreffen. Mit anderen Worten: Differenzierung nach Leistungsgruppen wäre im Sinne der Bildungsgerechtigkeit das Gebot der Stunde.

Natürlich gibt es auch bei strikter Differenzierung weiterhin Unterschiede im Bildungserfolg nach der sozialen Herkunft, aber nicht anders als in integrierten Systemen. „Für die Erklärung der Leistungen kommen gewiss auch Effekte aus der Qualität der Schulen und der Qualifikation des Lehrpersonals hinzu. Diese Effekte gibt es auch, anders als jene, die mit der Differenzierung nach den kognitiven Fähigkeiten zu tun haben, überall, auch bei Integration. Qualität der Schulen und Qualifikation der Lehrer könnten zudem, auch darin anders als die kognitiven Fähigkeiten, institutionell geändert werden. Eine irgendwie schon sachlogische Verbindung zwischen Leistungsdifferenzierung und einer Stratifikation der Schulen und des Bildungserfolgs besteht jedenfalls nicht“, sagt Esser.

Warum aber hielt und hält sich die Standardposition schon so lange? Die Antwort liegt nahe: Weil bei Pisa entscheidende Informationen nicht enthalten waren, daher die theoretisch nötigen Analysen nicht vorgenommen werden konnten und sich so systematische Verzerrungen zuungunsten der leistungsbezogenen Bedingungen und Vorgänge geradezu ergeben mussten. Umso wertvoller erweisen sich nun die NEPS-Daten zu einer ersten Klärung der meisten offenen Fragen. Und der Befund ist eindeutig: Mit einer strikten Differenzierung nach Leistung wird die Bildungsbeteiligung leistungsgerechter und die Leistungen (in der Sekundarstufe) besser – und das, ohne dass sich der Einfluss der sozialen Herkunft verstärkt. Wer als Bildungspolitiker dafür sorgen will, dass sich die Gruppe der Risikoschüler verringert, muss eigentlich strikt differenzieren und in kognitiv möglichst homogene Schulklassen aufteilen. Dabei muss allerdings gewährleistet sein, dass nach Fähigkeiten und Leistungsstand aufgeteilt wird.

Umso wichtiger wären entsprechend verlässliche Leistungstests am Ende der Grundschulzeit und darauf gestützte leistungsgerechte Empfehlungen. Nur so könnte vermieden werden, dass Grundschullehrer Kinder aus privilegierten Familien eher für gymnasialgeeignet erklären und talentierte Kinder aus sozial schwachen und Migrantenfamilien unterschätzen. All das spricht für eine bindende Grundschulempfehlung, die politisch in keinem Bundesland mehr durchsetzbar erscheint. Normierte Testverfahren für den Übergang könnten die Einschätzung der Lehrer objektivieren. Diese Ergebnisse dann in einem verpflichtenden Gespräch mit den Eltern zu erläutern wäre eine Möglichkeit, Elternwillen und Leistungseinschätzung in praktikabler Weise zusammenzubringen. Dafür plädiert die Dortmunder Bildungsforscherin Ricarda Steinmayr in einer umfangreichen Studie.

Esser hat auch das Ergebnis der Sonderauswertung der OECD zur Resilienz vom Anfang dieses Jahres neu analysiert. Dabei zeigt sich, dass die kognitive Zusammensetzung der Schulklassen in den Ländern mit strikter Differenzierung bei Kindern aus schwierigen sozialen Verhältnissen einen zusätzlichen positiven Einfluss auf die Leistungen hat. In den offenen Systemen tut sich für sie nichts. Es trifft also auch hier nicht zu, was die Standardposition seit Pisa besagt und was die OECD regelmäßig mit ihren Sonderauswertungen zu bestätigen vorgibt: dass die Differenzierung die Leistungen nicht verbessert und (nur) die soziale Bildungsungleichheit verstärkt.

zum Artikel:  F.A.Z., BILDUNGSWELTEN, Heike Schmoll, Starken Schülern hilft´s, schwachen eher nicht

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