Digitalpakt Bildung – eine Kritik

„Der gesteuerte Mensch? Digitalpakt Bildung – eine Kritik“ von Gottfried Böhme

Rezension von Inge Lütje für Schulforum-Berlin

Die wochenlangen Schulschließungen wegen der Pandemie kommen den Digitalisierungsbefürwortern entgegen. Ihre Forderungen nach flächendeckender Ausstattung aller Schüler mit technischen Geräten und der Einrichtung diverser Lernplattformen finden große Resonanz bei vielen Lehrern, Eltern und den Verantwortlichen in der Schulbürokratie. Einmal eingeführt, ist damit zu rechnen, dass auch in der Nachpandemiezeit die Digitalisierung weiter vorangetrieben wird.

Da ist es gut, noch einmal innezuhalten und sich der Probleme bewusst zu werden, die mit dieser jetzt so rasant von vielen Seiten unterstützten Entwicklung verbunden sind. Es lohnt sich, dazu das Buch „Der gesteuerte Mensch? Digitalpakt Bildung – eine Kritik“ von Gottfried Böhme, erschienen 2020, zu lesen. Böhme, Jahrgang 1951, war über 40 Jahre als Lehrer und auch in der Lehrerfortbildung tätig.

Nach einem Vorwort geht der Autor im ersten Kapitel „Die Digitalisierungswelle erreicht die Pforten der Schulen“ auf drei Texte ein, die Grundlage seiner Ausführungen sind. Er analysiert kritisch das Strategiepapier der Kultusministerkonferenz Bildung in der digitalen Welt  von 2016, das den Hintergrund für den Digitalpakt#D oder Digitalpakt Schule bildet, ebenso das Buch Die digitale Bildungsrevolution – Der radikale Wandel des Lernens und wie wir ihn gestalten können (2015) von Ralph Müller-Eiselt und Jörg Dräger. Der Letztgenannte sitzt im Vorstand der Bertelsmann Stiftung, was Böhme zum Anlass nimmt, gleich am Anfang auf die vielfältigen ökonomischen Interessen an der Digitalisierung hinzuweisen. Das dritte Buch, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus der Harvard-Professorin Shoshana Zuboff (2018), bezeichnet er als „eine aktualisierte Fassung des Kapitals von Karl Marx“, allerdings „ohne dessen Geschichtsoptimismus“ (S. 24). Die Wahl dieser Texte macht deutlich, dass Böhme im Folgenden einerseits sehr eng an den aktuellen schulischen Entwicklungen bleibt, aber auch den Blick weitet auf ökonomische Interessen und eine durch die Digitalisierung veränderte Gesellschaft. Zwei Zitate aus dem Vorwort machen das deutlich: „Zur Disposition stehen mit der Änderung der Rolle von Schüler, Lehrer und Klasse zentrale Elemente unserer Schulkultur“ (S. 9) und „Wer die Schule verändert, der verändert auch die Gesellschaft“ (S. 10). Im ausführlichen Literaturverzeichnis finden sich weitere Hinweise auf Fachbücher, allerdings fehlen die Autoren Jochen Krautz, Ralf Lankau und Matthias Burchhardt.

In den folgenden drei Kapiteln „Eine Schule ohne Klassen, eine Schule ohne Lehrer“, „Der Schüler wird zum User“ und „Hasso Plattners Schulcloud“ beschreibt Böhme detailliert und kenntnisreich die Veränderungen durch den Einsatz digitaler Medien. Er spricht sich nicht gegen deren altersgerechten und didaktisch wohl überlegten Einsatz im Unterricht aus, sondern stellt in den Mittelpunkt seiner Kritik die  Onlineangebote großer Unternehmen, deren Programme die Schüler auf der Grundlage von Algorithmen ganz individuell durch den Lernstoff führen wollen. Für Böhme liegt die große Bedeutung der Schule darin,  eine wichtige Sozialisationsinstanz zu sein, in der Lernen als ein personales Geschehen in der pädagogisch motivierten Begegnung zwischen Schüler und Lehrer und der Schüler untereinander geschieht. Diese Gemeinschaft soll dazu beitragen, dass der junge Mensch zum mündigen Bürger heranwachsen kann. Die Digitalisierung, so seine These, führe zur Individualisierung und damit zur Vereinzelung des Schülers, der Lehrer werde zum bloßen Lernbegleiter und seiner Verantwortung für die Stoff- und Materialauswahl enthoben (und damit billiger!) und die Unternehmen profitierten von den unzähligen Informationen und Daten, die über jeden einzelnen Schüler und sein Lernverhalten gesammelt werden können.

Seine Kritik am Digitalpakt Bildung vertieft Böhme in dem folgenden Kapitel „Wer die Schule ändert, ändert die Gesellschaft“. Nach einem kurzen Exkurs zum Thema „Identitätsbildung“ verweist er auf die große Bedeutung, die bisher Lehrer – und andere Erwachsene – für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen hatten. Diese, so seine These, werde durch die Digitalisierung zunehmend von „Youtubern, Bloggern und Influencern“ ersetzt, das World Wide Web beerbe die Lehrerschaft (S. 138), der Heranwachsende werde der analogen Welt entfremdet. Böhme beklagt auch die fehlende Gewaltenteilung bei „Facebook, Google & Co.“ und warnt: „Riesige rechtsfreie Räume drohen zu entstehen“ (S. 140). Es folgt eine ausführliche, detaillierte Kritik am Strategiepapier der KMK, an den dort formulierten 60 zu erwerbenden „Kompetenzen“ im Umgang mit der Digitalisierung (S. 145). Böhme kommt zu dem Schluss: „Das Diktat der Kompetenzpädagogik behindert eine systematische Erfassung zukunftsrelevanter Wissensbereiche bzw. der Weltzusammenhänge, die ein junger Mensch kennenlernen sollte“ (S. 149). Und er konstatiert: „Das Ziel der kultusministeriellen Kompetenzpädagogik ist der Privatmensch, der […] vor allem gut auf das Berufsleben vorbereitet ist. Zu kurz kommt das Wissen um solche Zusammenhänge, die beruflich weitgehend belanglos sind. Dieses braucht man aber, um politisch aktiv zu werden, um gemeinsam Zukunft zu gestalten“ (S. 158/159). Er plädiert dafür, den Heranwachsenden die Überzeugung zu vermitteln, „dass wir alle Glieder einer Menschengemeinschaft sind, die im Idealfall füreinander einstehen und nicht ausschließlich im privaten Interesse handelt“ (S. 159). 

Im Kapitel „Der heimliche Lehrplan: ein neues Menschenbild?“ beantwortet Böhme ausführlich und kenntnisreich die im Titel seines Buches formulierte Frage „Der gesteuerte Mensch?“ Er verweist darauf, dass „Datenkapitalisten“ alles, was über den Einzelnen gesammelt worden ist, nutzen, „um ihn immer stärker in seinem Verhalten zu beeinflussen und damit gerade seiner Individualität zu berauben“ (S. 184). Er warnt vor der zunehmenden Macht der großen Konzerne, die, weitestgehend an der staatlichen Autorität ihrer Länder vorbei, immer mehr auch politischen Einfluss gewinnen mit gravierenden Folgen: „Wahlen werden manipuliert, Rassisten gelangen an die Macht, Populisten bekommen Zulauf, Filterblasen blähen sich auf, Hass ist ein großes Thema geworden, Teenager vereinsamen und und und …“ (S. 190). Den in seinen Augen geringen Widerstand gegen diesen „nihilistische[n] Durchmarsch“ erklärt er unter anderem damit, „dass in unseren westlichen Gesellschaften die Gleichgültigkeit Idealen bzw. Werten gegenüber rapide zugenommen hat“ (S. 181). Und erneut übt Böhme Kritik am Digitalpapier der KMK: „Etwa 60 Kompetenzen werden dort definiert, […], aber die weltanschaulichen Aspekte des digitalen Wandels mit Schülern zu erörtern ist nicht vorgesehen“ (S. 193). Damit ist unter anderem die Frage gemeint, ob der Unterschied zwischen Mensch und Maschine verschwinde, eine Diskussion, die, nach Böhme, „in der Mitte der Gesellschaft angekommen“ sei (S. 186). Dafür bringt er zahlreiche Beispiele, die z.T. bis ins Jahr 2006 zurückgehen, vor allem, aber nicht nur, aus dem angelsächsischen Raum. Böhme fordert die Schule auf, es bei dieser Diskussion nicht bei gefühlsmäßigen Antworten zu belassen, sondern: „Klarheit schaffen nicht Gefühle, Klarheit schafft der Verstand“ (S. 193).

Auf den letzten Seiten seines Buches widmet Böhme sich den folgenden Fragen: Was muss der Lehrer beim Einsatz digitaler Medien – nach heutigem Stand – beachten? Wie steht es mit dem Datenschutz und den gesundheitlichen Beeinträchtigungen? Welche kritischen Studien werden bei den positiven Ergebnissen der Evaluierung vernachlässigt? Diese stellt er dann auf zwölf Seiten kurz, aber gut nachvollziehbar vor. Außerdem nennt er, als Forderungen, dreizehn Aspekte zum Thema Digitalisierung der Schulen, „die von einem humanen pädagogischen Konzept, das sich guten europäischen Bildungstraditionen verpflichtet weiß, berücksichtigt werden sollten“ (S. 236).

Das Buch von Gottfried Böhme wendet sich vor allem an Eltern, Lehrer und Erzieher. Es ist an keiner Stellen plakativ, sondern immer kenntnisreich, fundiert und mit Beispielen belegt. Aus ihm spricht sowohl die Sorge um die Entwicklung des einzelnen Menschen als auch um den Fortbestand einer humanen, demokratischen Gesellschaft.

Gottfried Böhme, Der gesteuerte Mensch? Digitalpakt Bildung – eine Kritik, Evangelische Verlagsanstalt GmbH Leipzig 2020, ISBN 978-3-374-06341-3

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