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Nicht „Eine Schule für alle“, sondern „Für jedes Kind die beste“

„Es entsteht eine explosive Mischung“

Dass Inklusion in Deutschland nicht funktioniert, hat nach Meinung des Pädagogen Michael Felten viele Gründe – unter anderem die „neuen Kinder“, deren Eltern wenig Zeit haben.

Hannoversche Allgemeine, 4.3.2017, Interview: Jutta Rinas

Michael Felten, geboren 1951, lebt im Rheinland und arbeitet seit mehr als 35 Jahren als Gymnasiallehrer in Köln. Er ist Dozent in der Lehrerausbildung, berät Schulen (www.elternlehrer-fragen.de) und ist Autor des Buches „Die Inklusionsfalle. Wie eine gut gemeinte Idee unser Bildungssystem ruiniert“, siehe Bücherliste.

Jutta Rinas: Herr Felten, seit acht Jahren haben behinderte Menschen in Deutschland ein Recht auf umfassende Teilhabe. Befürworter der Inklusion beklagen, dass seitdem viel zu wenig passiert ist. Sie dagegen wähnen uns schon jetzt in der Inklusionsfalle. Was meinen Sie damit?

Michael Felten: Ich möchte vorab betonen, dass ich es wichtig finde, Kinder möglichst stark gemeinsam zu beschulen. In Frankreich etwa waren bislang 20.000 behinderte Kinder generell vom Schulsystem ausgeschlossen. Das finde ich schlecht. In Deutschland krankt Inklusion jedoch an zwei Dauerbaustellen. Sie ist in der Regel stark unterfinanziert – und Lehrer werden im Unterricht nicht einmal ansatzweise ausreichend von Sonderpädagogen unterstützt. Es ist deshalb an der Zeit, der Inklusionspropaganda aus den Hochglanzbroschüren etwas Realität entgegenzusetzen.

Ihre radikale These lautet: Inklusion ruiniert das ganze Bildungssystem. Wieso?
Dazu muss man wissen, dass die Situation heute zum Beispiel an Grundschulen auch ohne Inklusion viel komplizierter als früher ist.

Warum?
Weil die Pädagogen heute auf eine viel schwierigere Klientel treffen. Wir verwenden dafür den Begriff der neuen Kinder. Das sind Kinder, deren Eltern aus beruflichen oder privaten Gründen viel zu wenig Zeit für sie haben. Diese Kinder kennen wenig von der Welt außerhalb von Internet und Fernsehen. Oder es sind Kinder, die für ihre Eltern eine Art Lebensprojekt sind. Sie erfüllen ihnen jeden Wunsch, räumen jeden Stein aus dem Weg.

Was macht beide Gruppen so problematisch?
Beide brauchen besonders intensive pädagogische Unterstützung. Die vernachlässigten Kinder müssen individuell gefördert, oft überhaupt erst einmal schulfähig gemacht werden. Die überbehüteten haben großen sozialen Nachholbedarf, weil sie nie gelernt haben, dass sich nicht immer alles um sie dreht. Wenn dazu dann noch Kinder mit schweren sozial-emotionalen Störungen oder Lernschwierigkeiten kommen, um die man sich früher in kleinen Förderschulklassen intensiv gekümmert hätte, entsteht im Unterricht schnell eine explosive Mischung.

Sie sind selbst Lehrer, bekommen in ihrem Blog viel Post von Lehrern. Sagen sie mal ein Beispiel.
Nehmen Sie eine Lehrerin aus dem Rheinland, die eine erste Klasse unterrichtet. Die meisten Kinder freuen sich auf den Unterricht. Zwei der 27 Kinder sind aber hochgradig verhaltensauffällig, haben täglich Ausraster. Ein normaler Unterricht, bei dem man den Regelkindern gerecht wird, ist gar nicht möglich. Und nicht nur das …

Was noch?
Die Lehrerin muss nicht nur damit umgehen, dass sie und die Mitschüler ständig beleidigt und körperlich attackiert werden. Neben dem normalen Arbeitspensum muss sie umfangreiche Berichte anfertigen, immer wieder Gespräche mit den Eltern führen, mit Sozialpädagogen, mit Behörden. Am Ende bleibt vielleicht nur, die Förderkinder in anderen Lerngruppen unterzubringen oder die Unterrichtszeit für sie zu verkürzen. Damit wird sie auch ihnen nicht gerecht.

Das klingt wie eine extreme Ausnahmesituation …
Ist es aber nicht. Mittlerweile kann die Schule in Nordrhein-Westfalen auch schwierigste Schüler oft nicht mehr selbst an eine Förderschule verweisen, wo man dem Kind meist viel besser helfen könnte. Das können in den ersten beiden Schuljahren höchstens die Eltern beantragen. Die Landesregierung setzt wohl darauf, dass viele Eltern denken, gemeinsames Lernen sei für jedes Kind das Beste. Und man muss befürchten, dass demnächst sogar das Elternwahlrecht abgeschafft wird. Damit bündeln sich alle Probleme in der Regelklasse.

Wie viel Geld würde man brauchen, um ein gut funktionierendes, inklusives Schulsystem zu etablieren?
Die Grünen haben 2009 ein Gutachten in Auftrag gegeben. Das kam zu dem Ergebnis, dass man für ein angemessen ausgestattetes Inklusionssystem 49 Milliarden Euro bräuchte. Zieht man das Geld ab, das man durch die Schließung der Förderschulen einsparte, bliebe immer noch ein Neuaufwand von 35 Milliarden. Diese Summe würde niemand bezahlen können. Über dieses Gutachten wird deshalb kaum noch geredet.

Ihr Fazit ist die Weiterentwicklung des dual-inklusiven Schulmodells und ergänzende Förderschulen. Fordert die UN-Behindertenrechtskonvention aber nicht gerade die Schließung aller Förderschulen?
Nein, das ist ein großes Missverständnis. Die Behindertenrechtskonvention fordert nicht eine verpflichtende Schule für alle, sondern für jedes Kind den besten Ort zum Lernen. Und das kann, wie weltweit immer noch häufig üblich, auch eine Spezialschule oder Separatklasse sein.

„So viel hochqualitative Integration wie sinnvoll und möglich – anspruchsvoller getrennter Unterricht überall da, wo nötig!“

„Abitur für alle mit Vollkasko-Garantie“ – mit geringer Selbstbeteiligung

Neue Schulen dringend gesucht

Bildungsstaatssekretär Mark Rackles (SPD) im TSP vom 09.03.2017 von Susanne Vieth-Entus:

„Nach derzeitigem Stand ist die Reaktivierung von 16 Liegenschaften und die Erweiterung 68 bestehender Grundschulstandorte geplant“. Von 28 Standorten, die für die Bebauung mit einer neuen Grundschule vorgesehen sind, sind nur neun bereits verfügbar. (…)

Weiter schreibt der TSP:  Auffällig ist, dass kaum Erweiterungen der Gymnasien geplant sind. Rackles begründet dies damit, dass es aktuell noch freie Kapazitäten an Gymnasien gebe. Im Übrigen könnten Oberschulstandorte je nach Bedarf sowohl an Gymnasien als auch als ISS [Integrierte Sekundarschule] genutzt werden. FDP-Bildungspolitiker Paul Fresdorf ist allerdings skeptisch und vermutet, dass der Senat „nur die ideologisch bevorzugte Schulform Gemeinschaftsschule“ privilegieren wolle.  Im Vorfeld hatte bereits der Berliner Philologenverband alarmiert darauf reagiert, dass die Gymnasien im jüngsten Bericht der „AG Schulraumqualität“ überhaupt nicht vorkamen. (…)

Ein Blick in die Vereinbarungen der Koalition aus SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/ Die Grünen zu „Schule und Bildung in Berlin“ bringt die Bestätigung!

Schulneubau – Gemeinschaftsschule:

Die Gemeinschaftsschule wird als schulstufenübergreifende Regelschulart, die Grund- und Sekundarstufe I und II umfasst, in das Schulgesetz aufgenommen. Die Koalition unterstützt bei notwendigem Schulneubau vor allem die Neugründungen von Gemeinschaftsschulen. (Koalitionsvertrag S. 10)

Dort wo Grundschulen und weiterführende Schulen benötigt werden, sind die Neubauten baulich für die Nutzung als Gemeinschaftsschulen vorzusehen. (Koalitionsvertrag S. 66)

Die unverhohlene politische Schwerpunktsetzung auf die Gemeinschaftsschule und kritische Aussagen zu deren propagierter Lernkultur:

In Anbetracht der politisch gewollten und tatsächlich wachsenden Heterogenität in den Schulklassen wird mit dem Konzept der Gemeinschaftsschule die strittige Schlussfolgerung abgeleitet: Unterricht müsse eine weitgehende Individualisierung ermöglichen.

Die kritische Bestandsaufnahme der Gemeinschaftsschule hat jedoch offenbart, dass beim Individuellen Lernen vor allem die Kinder aus bildungsfernen Familien benachteiligt sind, da sie der helfenden und fördernden Hand der Lehrkraft besonders bedürfen. Auch eine noch weitergehende Individualisierung der Lernarrangements, z.B. durch Werkstatt- und Wochenplanarbeit, Arbeit im Lernbüro und im offenen Lernen, wie von der Gemeinschaftsschule propagiert, erscheint nicht als die Problemlösung. Wie in mehreren aktuellen Studien (Hattie, Lipowsky, u.a.) bereits nachgewiesen, läuft diese Vorgehensweise des individualisierenden und selbständigen Lernens Gefahr, dass insbesondere Schüler mit schwächeren und ungünstigeren Voraussetzungen nicht angemessen gefördert werden. Die Schere zwischen leistungsstärkeren und -schwächeren Schülern wird damit nicht verringert. Die politischen Vorgaben, durch die Gemeinschaftsschule Schüler zu mehr Chancengleichheit zu führen und Chancengerechtigkeit zu verwirklichen, kann demnach auf diesem Wege nicht eingelöst werden. Das politische Ziel der rot-rot-grünen Koalition ist dennoch: „Eine Schule für alle“, d.h. eine leistungsnivellierende Einheitsschule, verwirklicht über die Gemeinschaftsschule! Nach dem Motto: „Abitur für alle mit Vollkasko-Garantie“ – mit geringer Selbstbeteiligung. Die Opfer und Leittragenden eines so merkwürdigen Verständnisses von „Bildungsgerechtigkeit“ sind zwangsläufig die Schülerinnen und Schüler, das heißt unsere Kinder!

Siehe:  Frank Lipowsky, Miriam Lotz, Ist Individualisierung der Königsweg zum erfolgreichen Lernen? – Eine Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und empirischen Befunden, 2015; Christoph Türcke, Lehrerdämmerung – Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet, 2016; Martin Wellenreuther, Direkte Instruktion, Michael Felten, Lernwirksamkeit statt Methodenfeuerwerk, Jochen Grell, Das Direkte Unterrichten und seine Feinde, in Pädagogik 1/2014; John Hattie, Lernen sichtbar machen, 2013; John Hattie, Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen, 2014; Frankfurter Allgemeine Zeitung, Bildungswelten, 17.11.2016, Rainer Werner, Rote Laterne für Berlin; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.02.2017, Klaus Ruß, Ermäßigungspädagogik – Wie die Schule es schafft, zu Lasten der Kinder zielstrebig ihre Anforderungen zu senken.

siehe auch: Die Berliner Gemeinschaftsschule – Des Kaisers neue Kleider?  Analyse der Gemeinschaftsschule Berlin

„Eine Schule ist kein Flughafen“

Ordentlich Betrieb machen

TSP, 09.03.2017, Gerd Nowakowski

Eine Schule ist kein Flughafen. Nicht so komplex, überschaubar und kein Hightech-Projekt. Doch in Berlin sind selbst funktionierende Schulbauten eine Herausforderung. Zumal es nicht reicht, die buchstäblich zum Himmel stinkenden Zustände in vielen Schulen zu beseitigen und den Sanierungsstau von mehr als vier Milliarden Euro endlich abzubauen. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Standorte erweitert oder neue Schulen gebaut werden müssen. Bis 2025 wird die Schülerzahl in der wachsenden Stadt um ein Viertel zunehmen – dann sind 75.000 zusätzliche Plätze nötig. Das ist die Dimension, um die es geht. Angesichts der Berliner Verwaltungseffizienz kann einem das Angst machen.

Kinder brauchen Schulen, die den Herausforderungen der wissensbasierten Gesellschaft in einem der reichsten Länder der Welt gerecht werden, Schulen, in denen Lehrer und Schüler sich auf das Lernen konzentrieren können. Die Realität ist eine andere. (…) Im Ergebnis hat der Senat die Schulen verkommen lassen, und die größte Zukunftsressource, die Schulkinder, muss dafür büßen, dass in den 90er Jahren eine unfähige Politik Berlin in die Schuldenfalle manövriert hat. (…)

Selbst wenn man mit einer Task Force, wie zuweilen Politiker vorschlagen, alle Beteiligten [Bezirksämter und Hauptverwaltungen auf Landesebene] an einen Tisch bringt, um Planung und Bauphase zu beschleunigen, steht eine Schule bestenfalls in vier Jahren. [bisher Planung bis Abschluss neun Jahre] (…)

[Sollte eine solche Landesschulbaugesellschaft noch dieses Jahr gegründet werden, ist sie] erst 2018 richtig handlungsfähig. Bis zu diesem Zeitpunkt – zu dem der Flughafen BER nicht einmal eröffnet sein wird – benötigt Berlin aber schon rund 22.000 zusätzliche Schulplätze. [Bis 2020/21 wird mit 40.000 zusätzlichen Schülern gerechnet] Da wird sich der Senat schwertun, den ungeduldigen Eltern zu erklären, dass es noch etwas dauern könnte, bis auch ihre Schule saniert ist. Der Unterschied zum Problem-BER ist nämlich: Auf den Start des Flughafens kann Berlin notfalls noch länger warten – funktionsfähige und moderne Schulen aber brauchen die Kinder jetzt.

Zum Artikel:  TSP, 09.03.2017, Gerd Nowakowski, Ordentlich Betrieb machen

siehe auch:  http://www.tagesspiegel.de/berlin/bildung-in-berlin-so-hoch-ist-der-sanierungsstau-alle-schulen-im-ueberblick/19490374.html

Ermäßigungspädagogik

Wie die Schule es schafft, zu Lasten der Kinder zielstrebig ihre Anforderungen zu senken

FAZ, Bildungswelten, 23.02.2017,  Klaus Ruß

(…) Wer die öffentliche Debatte verfolgt, weiß, dass halbe Analphabeten den Hauptschulabschluss in der Tasche haben, dass manche Realschulabsolventen weder alle Monatsnamen kennen noch eine Vorstellung davon haben, was „Prozent“ bedeutet. Alarmrufe von Universität und dualer Ausbildung verhallen ungehört und begleiten das Schicksal junger Menschen, die formal erfolgreich, faktisch unqualifiziert und subjektiv ratlos und betrogen sind. Eine Gesellschaft, die nicht müde wird, die kognitive Leistungsfähigkeit eines rohstoffarmen Landes zu beschwören, macht Kinder zu Opfern eines Schulwesens, das seine Existenz gesetzlichem Zwang verdammt und seine Arbeit nicht mehr gewissenhaft tut.

Wie funktioniert das? Warum spielen Lehrkräfte und Eltern als gemeinsame Träger der Verantwortung für das Kindeswohl dieses Spiel mit der Zukunft der Kinder? Die Lage ist sehr unübersichtlich; einige Faktoren, die sich über Jahrzehnte verfestigt haben, können aber zeigen, wie bessere Noten zunehmend prekäre Kenntnisse und Fertigkeiten „belohnen“. (…)

Lehrer tun gemeinhin das, was man ihnen befiehlt, auch wenn sie es für falsch und unverantwortlich halten. Die Grundschullehrerin ist verzweifelt, weil sie künftig weder Schreibschrift noch korrekte Orthographie lehren darf. Sie hat sich mit Graphomotorik, der Lehre vom Schreibenlernen, gründlich befasst und weiß, dass solche Erleichterungen die Kinder später teuer zu stehen kommen wird. Es hilft ihr nichts; der Lehrplan und die Schulkonferenz haben es beschlossen, und die Eltern sind begeistert, weil die Kleinen schon in der zweiten Klasse „richtige Schriftsteller“ sind. Ob sie später die Rechtschreibung lernen werden, kümmert diese Grundschule nicht. Sie entsorgt das Problem an die weiterführende Schule.

Ein Oberstudienrat, altgedienter Latinist, hat zu dieser Verlagerung eine bösartige Erklärung entwickelt und dazu zwei lateinische Klassenarbeiten parat: Livius, Klasse 12. Die eine aus dem Jahre 1970 und die andere aus dem Jahre 2016. Die erste enthält eine DIN-A4-Seite Text zum Übersetzen  mit drei Vokabelangaben, die zweite sieben Zeilen Text, zwanzig Vokabelhilfen und drei ausführliche Übersetzungsanweisungen sowie den Hinweis, dass hinreichendes Interpretieren in jedem Fall fünf Punkte erreichbar macht. „Mit diesen Kenntnissen kann man weder Geschichte noch Theologie studieren. Die taugen zu nichts. Die Schüler haben keine Ahnung, wie sie ums eigentliche Lernen betrogen werden, und wenn sie später im Studium versagen, wissen sie nicht, dass es an der Schule liegt“. Er vergleicht die Schule mit dem Kammerjäger der Ratten vertilgt. „Diese schlauen Tiere fressen Warfarin und verenden an einer anderen Stelle und wissen nicht, wo ihnen der Tod verabreicht wurde. Ähnliches tut die Schule, wenn sie ihre Verantwortung für die Zukunft der Schüler leugnet und sie ausspuckt, ohne sie tüchtig gemacht zu haben“.

Manche Lehrkräfte finden solches Verhalten richtig. Sie haben immer noch die Nachwehen der „Klassenschule“ mit ihren „Rahmenrichtlinien“ im Kopf und eine Abscheu vor „abfragbarem Wissen“ bewahrt. Für sie ist jedwedes Lernen von Regeln und Strukturen schlicht Dressur. Manche von ihnen sind in die Politik und Bildungsverwaltung gegangen und arbeiten beharrlich daran, dass die Reduktion des Lernpensums Bestandteil des Bildungsauftrages wird.

Die meisten Lehrer aber leiden an der Situation und heulen doch mit den Wölfen. Die geschmeidige Schulwebsite mit ihren Erfolgsmeldungen, Auszeichnungen und Abschlussquoten setzt vor allem emotionale Zeichen. Das Image der Schule, die Wärme der Kollegialität und die Scheu, den Schülern konsequent Anstrengungen abzuverlangen, sind die Ingredienzien, aus denen das „Warfarin“ gemixt wird. Seine Minilateinklausur zeigt, dass auch der Oberstudienrat mitmacht und die Schüler nur insgeheim bemitleidet. Gruppendruck, das Selbstverständnis der meisten Lehrkräfte als Einzelkämpfer und eine fundamentale didaktische Unsicherheit schaffen ein Klima der Resignation. Selbst die unablässig forsch verlangte „Entrümpelung“ der Lehrpläne oder die Degradierung des Lehrers zum „Lernbegleiter“ bringen die Lehrer nicht dazu, sich persönlich und offen zu empören.

Eine wachsende Zahl von ihnen kann das Dilemma gar nicht mehr erkennen. Sie haben von der Erosion des Leistungsprinzips als Schüler „profitiert“, ihre Defizite durch vier bis sechs Jahre Lehramtsstudium mitgeschleppt und herausragende Examensnoten ins Referendariat gebracht. Theoretisch wäre das Studienseminar der letzte Ort in der Lehrerausbildung, klare fachliche Anforderungen durchzusetzen. Aber wäre das fair? Wäre es überhaupt machbar, den pädagogischen Auftrag der Lehrerbildung mit elementarer Nachhilfe zu kombinieren? (…)

Viele Inhalte sind [in der Schule] zwar immer noch „dran“, aber nur bis zur nächsten Klassenarbeit und nicht mit dem Ziel, durch das weitere Leben zu begleiten. So weist ein Klempnermeister seine Lehrlinge an, die Länge einer schräg verlaufenden Dachrinne auszurechnen, vergeblich, denn sie haben ihr Tablet nicht dabei und aus dem Stand keine Ahnung, wie sie mit rechtwinkligen Dreiecken umgehen müssen. Ein empörter Anruf bei der Berufsschule belehrt ihn, dass solche Techniken „in der Cloud“ abgelegt seien und die Lehrlinge gelernt hätten, die Ressource zu nutzen. Der Meister ist fassungslos.

Alldem liegt ein zeitgeistiger psychischer Mechanismus zugrunde: Die Lehrkräfte als „Lernbegleiter“ dürfen (und wollen) eigentlich keinen Zwang mehr ausüben. Gute Noten – wie die Schwemme an Eins-Komma-Abitur-Prüfungen – machen beliebt, fördern das Image der Schule und schaden zunächst scheinbar nicht. Der Politik ist das alles recht. Sie will die Maximierung nominell hochwertiger Abschlüsse. Was später aus den Menschen wird interessiert sie nicht mehr.

Klaus Ruß war Gymnasiallehrer und Gymnasiallehrerausbilder und ist als pädagogischer Berater tätig.


siehe auch weiterer Beitrag von Klaus Ruß:
Bildungsverfall Das Gymnasium – Ruine einer Utopie?
Das Gymnasium hat zwei Feinde: seine Anhänger und diejenigen, die unverdrossen seine Abschaffung zugunsten der Gesamtschule [eine Schule für alle] fordern. Letztere treibt eine irgendwie linke Ideologie, während die Freunde des Gymnasiums so viele Kinder hineinpumpen, dass sich die Qualitätsfrage des gymnasialen Abschlusses mit zunehmender Schärfe stellt.

„Es gibt über 80.000 Kinder mehr als Plätze in den Berliner Schulen“

Wie Rot-Rot-Grün Berlin umerziehen will

Bild: dpa, aus FAZ, 14.01.2017

Mit dem Senat in Rot-Rot-Grün wird sich die Stadtgesellschaft atomisieren: Die eigene Klientel bekommt alle Wünsche erfüllt, und die Ideologie bestimmt die Politik – bis ins Detail.

FAZ, von Regina Mönch

(…) Wer im fast zweihundert Seiten starken Koalitionsvertrag der Stadtregierung liest, die sich trotz stotternder Premieren unverdrossen selbst lobt, wird kaum Hoffnung schöpfen, dass sich die Sache mit den Flieh- oder Bindekräften unter ihr zum Guten wenden könnte. Die Versprechen für die Gesamtheit klingen wolkig, bestenfalls selbstverständlich (sozial, Teilhabe, solidarisch), umso lauter werden Gruppenwünsche artikuliert. (…)

Vermisst werden überzeugende Konzepte
Der kleinteilige und detailversessene Koalitionsvertrag mutet in Teilen wie gebündeltes Misstrauen an, vielleicht aus der begründeten Furcht, ein politischer Partner könnte sonst den anderen über den Tisch ziehen mit unverhofft realitätskonformen Plänen. Selten oder gar nicht tauchen die gewaltigen strukturellen Probleme der Stadt auf, die Sicherheitsprobleme, die akute Gefährdungslage, der lahmende Verkehr, die kaputten Straßen und Schulen. Vermisst werden überzeugende Konzepte, wie man etwa möglichst schnell siebzig bis hundert neue Schulen zu bauen gedenkt, weil man sich, wie es dann immer heißt, auf falsche Prognosen verlassen hat. Weil niemand, der für richtige Prognosen hätte sorgen müssen, bemerkte, dass es über 80000 Kinder mehr gibt als Plätze in den Schulen. Im Koalitionsvertrag ist unscharf von „alternativen Finanzierungsmöglichkeiten“ die Rede, mit denen man diesem euphemistisch als „Investitionsstau“ beschriebenen Zustand „beschleunigt“ zu Leibe rücken will.

Die Senatorin, unter der dieser unbehauste Schülerberg anwuchs, ist dieselbe geblieben. Unangefochten von der Tatsache, dass Berlin unter ihrem Management zum Schlusslicht bei Schulleistungsvergleichen avancierte und die meisten Schulversager hat, griff sie sogleich die Lehrer an, denen sie mehr „Selbstevaluation“ empfiehlt. Das ist auch eine Haltung. Das Bildungssystem der Stadt ächzt unter den Folgen zahlloser, meist unausgereifter Reformen, zumindest nannte man sie so. Ob dieser vorsätzliche Murks am Kind, der immer mal wieder zurückgenommen wurde, wenn er sich als völlig untauglich erwies, nun ein Ende hat, ob Berlins Schulen zum Erprobten, Zuverlässigen zurückkehren dürfen, darüber steht nichts im Vertrag.

Zu viele widerstreitende Nischenprojekte drängen auf die politische Bühne
Aber diese Reformitis dürfte eine der Ursachen sein, warum hier so viele Kinder nur unterdurchschnittliche Leistungen erreichen. Umstellt von sozialen Reparaturangeboten und zahllosen Präventionsmaßnahmen, zuweilen von abenteuerlicher Natur, wächst die große Gruppe der Risikoschüler an, ohne dass es einmal zu einer unideologischen Aufarbeitung gekommen wäre. Die Hoffnung, dass sich das mit dieser Koalition ändert, geht gegen null, zu viele widerstreitende Nischenprojekte drängen jetzt auf die politische Bühne. (…)

Hervorhebungen kursiv durch Schulforum-Berlin

zum Artikel:  FAZ, 14.01.2017, Regina Mönch, Vertrag der neuen Koalition – Wie Rot-Rot-Grün Berlin umerziehen will

siehe auch:  Vernebelungsaktionen in Sachen „Schule und Bildung“ im Koalitionsvertrag

„Die Lehrkraft muss Mut zum Handeln und zum Vormachen haben“

Die Lehrkraft als Modell

von Dorothee Gaile
Kaum ein Thema weckt über Generationen und Professionen hinweg so starkes Interesse wie die Frage, was denn unter einem guten Unterricht und unter einer guten Lehrkraft zu verstehen sei. Schließlich verfügt jede und jeder über eigene Erfahrungen in diesem Feld.

(…) Auf der Suche nach Erfolgsfaktoren für gelingenden Unterricht wird vorrangig die Sozialform und die damit einhergehende Lehrer-Schüler-Interaktion genannt. Als Beispiel mag die ernsthafte Nachfrage einer Fortbildungsteilnehmerin gelten, ob ein zeitgemäßer Unterricht „überhaupt noch einen Lehrervortrag“ vertrage. Diese Frage ist mitnichten banal. Sie lässt sich als Symptom einer Verunsicherung mit Blick auf die eigene Rolle werten. (…) Offenbar sind das Selbstverständnis der Lehrkraft, ihre Wahrnehmung der Lernenden, ihr Handlungsziel und die damit korrespondierenden Lehr-Lernstrategien viel mehr von Bedeutung für lernwirksamen Unterricht als die äußere Inszenierung des Unterrichts. (…)

Der Erfolg von Lehr-Lernstrategien ist an gelingende Lehrer-Schüler- und Schüler-Schüler-Interaktion geknüpft. Gute Chancen hat das Lernen dann, wenn es der Lehrkraft gelingt, ein unterstützendes Interaktionsklima im Klassenraum zu schaffen. Dies hat zwei Aspekte, einen sozial-emotionalen und einen kognitiven (GAILE 2010, S. 75–84). Zum einen sollte die soziale Interaktion im Klassenraum ermutigend auf die Lernenden wirken. Nur so werden Jugendliche ihre Unsicherheiten, z. B. mit Blick auf unbekanntes Fachvokabular oder anspruchsvolle Satzstrukturen, ohne Angst vor Beschämung offen thematisieren und auch bearbeiten. Zum anderen ist unterrichtliches Vorgehen dann wirksam, wenn es die Lernenden kognitiv aktiviert und dabei ihre Lernprozesse kognitiv unterstützt (ROSEBROCK 2014, S. 73 f.). (…) Die Art und Qualität der Kommunikation zwischen Lehrkräften und Lernenden ist offenbar von ausschlaggebender Bedeutung für lernwirksames bzw. –unwirksames Unterrichtsgeschehen. (…) Setzt die Lehrkraft ihre Impulse als Denkfrage (Higher-order question), die statt des Memorierens von Fakten nach Begründungen („Worauf führst du das zurück?“) und Hypothesenbildung („Wie würde sich das Ergebnis verändern, wenn… ?“) verlangt, kann Unterricht eine Tiefendimension entfalten, bei der die Köpfe der Lernenden rauchen. (…) Als lernwirksames Verfahren gilt auch das Modellieren des angestrebten Lernverhaltens (vgl. GARBE, ROSEBROCK, HATTIE, TIMPERLEY). Dabei führt die Lehrkraft als Expertin ihres Faches den Lernenden laut denkend ihre eigenen gedanklichen Prozeduren und Problemlösungen beim Bewältigen einer Aufgabe vor. Die bewusste Übernahme der Rolle als Lernmodell gehört jedoch zumeist nicht zum Standard des Handlungsrepertoires von Unterrichtenden. (…) Der Deutschdidaktiker Heiner Willenberg benannte es so: „Der Könner muss Mut zum Handeln und zum Vormachen haben“ (WILLENBERG 2007, S. 187) (…)

In allen Facetten lässt sich Lernen am Modell in der Dokumentation des Tanzprojekts „Rhythm is it“ beobachten, geleitet vom Choreographen Royston Maldoom in Zusammenarbeit mit dem Berliner Philharmonie Orchester. 240 Schülerinnen und Schüler aus 25 Ländern, darunter viele aus kulturell unterprivilegierten Familien mit begrenzter Schulbildung, meist ohne jegliche Kenntnis klassischer Musik, übten Strawinskys „Le Sacré du Printemps“ ein und führten es erfolgreich auf. Royston Maldoom und sein Team ließen sie einen anspruchsvollen Ausbildungsprozess mit klaren Regeln für Erfolg durchlaufen. Die Erwachsenen zeigten modellhaftes Verhalten, das sich nicht nur auf Willensstärke und Ausdauer beim Umgang mit anfänglichen Misserfolgen bezog, sondern auch auf die beim Tanzen zu beherrschenden Techniken in Soloparts, Paar- und Gruppenformationen. Während sich die Tanznovizen durch das stimulierende und anspruchsvolle Modellieren zunehmend verbesserten, konnten sich ihre Vorbilder immer stärker zurückziehen, sodass die „Lehrlinge“ am Ende buchstäblich die Hauptrollen spielen konnten.

Aussichtsreiches Lernen am Modell findet seine theoretische Begründung in den Studien des russischen Lernpsychologen Lev Wygotski. Aus diesen wissen wir: Selbstständiges Problemlösen stellt sich beim lernenden Kind nicht automatisch ein. Vielmehr kann es durch geschickte Lern-Arrangements und direkte Instruktion des Erziehenden, also durch soziale Vermittlung [durch einen „kompetenten Anderen“], gefördert werden. (…)

Auf welche Weise eine möglichst effektive Lernunterstützung – mit dem Ziel der zunehmenden Selbstständigkeit der Lernenden – ablaufen kann, hat Wygotski in vier Schritten beschrieben: In einem ersten Schritt erläutert und demonstriert der Experte, also der „kompetente Andere“, als Modell das gewünschte Lernverhalten an Aufgabenbeispielen aus dem Unterrichtskontext. In einem zweiten Schritt stützt er das Lernen des Novizen durch geeignete Hilfen. Die von den Kognitionspsychologen Bruner, Wood und Ross gewählte Metapher des sogenannten „Scaffolding“, also des Bereitstellens eines Lerngerüsts, vergleichbar mit dem Gerüst beim Hausbau, drückt aus, dass die Lernunterstützung nur vorübergehend gewährt wird. Mit zunehmender Selbstständigkeit des Lernenden kann diese Unterstützung in einem dritten Schritt stufenweise abgebaut werden. Dieser Prozess wird auch als „Fading“ bezeichnet. Der vierte Schritt ist dann vollzogen, wenn Lernende das Erlernte selbstständig anwenden und reflektieren können. (…) Je mehr Autonomie ein Lernender erwirbt, umso stärker kann sich das Modell, also die Expertin oder der Experte, zurückziehen. (…)

Fazit: „Der Könner muss Mut zum Handeln und Vormachen haben und er muss später wieder loslassen können, wenn seine Schüler ihre eigene Mischung angewandter Kategorien erfolgreich praktizieren“ (WILLENBERG 2007, S. 187). Denn wenn Schülerinnen und Schüler am Modell erleben, wie sie anspruchsvolle Lernsituationen bewältigen können, entwickeln sie als Lernende ein positiveres Selbstkonzept. Sie werden zu erfolgreichen Lernerinnen und Lernern. Das führt zu einem Erfolgserlebnis für Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler.

Aus:  BildungBewegt, Nr. 27, Dorothee Gaile, Die Lehrkraft als Modell oder: Könnerinnen und Könner mit Mut zum Handeln und zum Vormachen, Publikation des Hessischen Kultusministeriums für Lehrerbildung – wird nicht mehr aufgelegt!