Archiv für den Monat: Februar 2020

Schule ohne Lehrer

Lehrer einsparen und mehr auf E-Learning-Kurse setzen? Die Schülerschaft ist nicht begeistert. Unter Lehrern sorgt das Vorhaben für Unmut.

FAZ, 01.02.2020, Jessica von Blazekovic, Wirtschaftsredakteurin bei FAZ.NET.

[…] Mitte Januar berichtete die Tageszeitung „Toronto Star“ über Pläne der Provinzregierung, das Budget der Schulen in Ontario bis zum Jahr 2023 deutlich zu beschneiden – indem Lehrer durch Computer ersetzt werden. Das Bildungsministerium orientiert sich dabei nach eigenen Angaben an einem Modell, wie es schon in den republikanisch regierten amerikanischen Bundesstaaten Alabama und Arkansas praktiziert wird.

Karikatur von Heiko Sakurai, Veröffentlichung auf Schulforum-Berlin mit freundlicher Genehmigung

Die Schulen in Ontario sollen demnach den Anteil der Schüler in E-Learning-Kursen in den kommenden Jahren „stufenweise hochfahren“, um Kosten zu sparen. In den internen Dokumenten werde sogar mit der Idee gespielt, ab September 2024 reine Online-Schulabschlüsse anzubieten. Mit dieser Maßnahme soll ab Herbst 2020 jedes Jahr ein wachsender zweistelliger Millionenbetrag an Fördergeldern eingespart werden, von rund 35 Millionen Dollar in diesem Jahr bis auf mehr als 57 Millionen Dollar ab dem Schuljahr 2023/24. Und nicht nur das: Wie die Zeitung weiter berichtet, will die Regierung von Ontarios Premierminister Doug Ford das Online-Curriculum sogar an Schüler aus anderen Provinzen vermarkten und prüfen, ob Lizenzen verkauft werden können. Das Bildungsministerium der Provinz bestätigte die Existenz der Dokumente, dementierte aber, dass es Pläne zur Privatisierung der Online-Kurse gebe.

Unter Lehrern sorgt das Vorhaben für Unmut

„Für mich sieht es ganz danach aus, als ob jemand nach Wegen suchen würde, Geld zu sparen, anstatt den Kindern das zu geben, was sie wirklich brauchen“, schrieb Harvey Bischof, Präsident eines Lehrerverbands in Ontario, in dem Kurznachrichtendienst Twitter. Premier Fords Regierung hatte immer wieder beteuert, die Pläne, E-Learning an Schulen verpflichtend zu machen, dienten allein den Schülern [!] und nicht dem Zweck, Geld einzusparen. Bischof fügte hinzu, die Idee, einen Schulabschluss komplett online zu erwerben, sei besonders „bizarr“.

Positive Lerneffekte sind nicht möglich.
Das hat nicht zuletzt die weltweite Hattie-Studie bewiesen: Nicht Technik entscheidet über den Lernerfolg, sondern in erster Linie die Persönlichkeit des Lehrers. […] Zentral bei jeder Lernerfahrung sind die zwischenmenschliche Interaktion, die spontanen Diskussionen im Unterricht sowie das gemeinsame Lernen in Gruppen. Face-to-Face bleibt unschlagbar, wenn ein begeisternder Lehrer mit seinen Schülern arbeitet. Da kann kein MOOC [Massive Open Online Course] aus Harvard mithalten! (Prof. Dr. Gerald Lembke, Duale Hochschule Baden-Württemberg Mannheim)

Schüler gegen den Plan

Wie eine Umfrage der studentischen Interessengruppe OSTA-AECO aus Ontario nun zeigt, halten auch die Schüler nichts von dem Vorstoß. 94,5 Prozent missbilligen demnach die Regierungspläne. Befragt wurden 6000 Schüler der Klassen 8 bis 12 an 60 staatlichen und katholischen Einrichtungen. Die Mehrheit (60 Prozent) der Schüler gab an, die bestehenden Online-Lernangebote würden ihr Lernverhalten nicht hinreichend unterstützen. Jeder Vierte hat demnach Schwierigkeiten, seine E-Learning-Lehrer bei Fragen zu kontaktieren, 35 Prozent sagten, sie hätten Probleme bei der Nutzung der Lernsoftware. OSTA-AECO zufolge würden schätzungsweise 90.000 Schüler in Ontario ihren High-School-Abschluss nicht schaffen, wären sie dazu verpflichtet, Online-Kurse zu belegen.

zum Artikel: https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/klassenzimmer/schule-ohne-lehrer-eine-provinz-in-kanada-macht-ernst-16609474.html
Eingefügte Karikatur mit freundlicher Genehmigung von Heiko Sakurai.
Textauswahl in grau unterlegtem Einschub und Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

Ist die Gemeinschaftsschule am Ende? – „Notenfreier Scheinerfolg bis Klasse 8“

„Ich bin als Sozialarbeiter geendet“

Gymnasiallehrer an Gemeinschaftsschulen (GMS) in Baden-Württemberg laufen Sturm.

FAZ, 13.02.2020, Heike Schmoll, Berlin

„Wenn ich Leistungsnachweise schreiben lasse oder gar Tests, dann werfen Schüler mir die Arbeit entgegen und meinen, dass ihnen ohnehin nichts passiere, wenn sie nicht mitschrieben.“ Das ist kein Bericht aus einer Berliner Brennpunktschule, sondern die Stimme eines Gymnasiallehrers an einer Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg. Der Wegfall der Noten und der Versetzungsordnung bewirkten, dass Schüler eine große Gleichgültigkeit entwickelten, „sie lernen nicht und besitzen auch keine Arbeitsdisziplin“.

Praktisch durchgängig werden von den Lehrkräften massive Disziplinprobleme in den Lerngruppen und während der selbstorganisierten Arbeitszeit beklagt, die ein effektives Lernen teilweise unmöglich machen.
[Textauswahl in grau unterlegten Einschüben aus der Pressemitteilung des Philologenverbandes Baden-Württembergs.]

Schüler könnten „Klassenarbeiten nach einem Nichtbestehen identisch wiederholen, so dass dann die Ergebnisse stimmen“, so ein weiterer Lehrer, nach dessen Aussage auch die Vergleichsarbeiten des VERA-Tests für die achte Jahrgangsstufe hochkorrigiert wurden.

Einige Lehrer schildern bezüglich der Anmeldenoten zur Abschlussprüfung bzw. für die VERA-Tests die klare Aufforderung ihrer Schulleitung, die Noten zu schönen. Die Ergebnisse der Mittlere-Reife-Prüfungen der GMS bestätigen diesen schweren Vorwurf: So liegt die durchschnittliche Anmeldenote in Mathematik landesweit bei 3,2, während die in der schriftlichen Prüfung erzielte Note im Durchschnitt nur 3,9 beträgt. Rund ein Viertel der GMS-Schüler erreicht in der schriftlichen Mathematik-Abschluss-Prüfung nicht die Note „ausreichend“.

Statt Zensuren und Zeugnissen gibt es sogenannte Lernentwicklungsberichte, die nicht „aussagekräftig“ seien und von den Eltern und den Schülern nicht verstanden würden.

Die Verbalbeurteilungen der Schülerinnen und Schüler werden von vielen Kindern und Eltern nicht verstanden, da sie in der Regel sehr wohlwollend und ermutigend formuliert werden. Noten gibt es an den meisten GMS erst ab Klasse 9. Kinder, die auf Basisniveau lernen und ihre Eltern erliegen so teilweise bis zur 8. Klasse der Illusion, sie würden auf die Oberstufe und das Abitur vorbereitet.

Sehr viele Hauptfächer müssten fachfremd unterrichtet werden, so die einhellige Beobachtung der Gemeinschaftsschullehrer mit gymnasialer Ausbildung, die aus Angst vor Konsequenzen anonym an den Philologenverband Baden-Württemberg berichtet haben. „Ich bin bewusst Gymnasiallehrer geworden und endete nun als Sozialarbeiter.“ Viele der Kinder seien „Schulverweigerer, die beim geringsten Anlass aus der Schule wegrennen, sich komplett verweigern, schreien, weinen, Mitschüler und Lehrer treten“. Es gehe nicht mehr um Wissens- und Kompetenzvermittlung, sondern nur noch darum, die Klasse zu bändigen, so ein weiterer Lehrer, der die Gemeinschaftsschule als Schulart für gescheitert erklärt. […]

Für die größtenteils stark verhaltensauffälligen Kinder mit großen Lernschwierigkeiten seien die individuellen Lernzeiten als offene Lernform völlig ungeeignet. „Die Schüler nehmen sich nur das Thema, auf das sie ,Bock haben‘, und so geschieht es, dass Themen der Grammatik und Rechtschreibung nie bearbeitet werden“, berichtet ein Lehrer, denn manche Schüler bearbeiteten im gesamten Schuljahr nur zwei Themen. „Einfachheitshalber kann man den Schülern Lösungsblätter geben, damit sie sich selbständig kontrollieren, was in der Praxis meist darauf hinausläuft, dass sie einfach fehlende Stellen abschreiben.“

In Baden-Württemberg wurde 2012 mit den ersten 41 GMS [inzwischen sind es 306 öffentliche und 123 private] ein pädagogisches Konzept eingeführt . Ein Konzept, in dem Lehrer zu „Lernbegleitern“ degradiert werden und Schüler sich nach kurzen inhaltlichen Inputs den gesamten Stoff selbst erarbeiten sollen. Dieses Konzept ist insbesondere für schwächere Schüler – die an der GMS die Mehrheit stellen – völlig ungeeignet. Die schwächsten Schüler benötigen gerade die engste und intensivste Führung und Betreuung. Dies wurde auch in der WissGem-Studie, der Begleitstudie zur Evaluation der Gemeinschaftsschulen, genauso festgestellt. Im Übrigen sparte die Studie dieses neuen Konzepts in ihren Untersuchungen die Leistungsentwicklung der Schülerinnen und Schüler praktisch vollständig aus.

Wenn die Gemeinschaftsschule so weitergeführt werde, „erziehen wir unsere Schüler zu überforderten Frustrierten“, heißt es in einem der Berichte. Das selbstorganisierte Lernen sei für schwache Schüler fatal. Das deckt sich mit Erkenntnissen der Lernforschung, die den lehrergeleiteten Unterricht für schwache Schüler als effektivste Form der Lehre identifiziert hat.

„Die Lernstandserhebung in Klasse fünf zeigt regelmäßig, dass sich die meisten Schüler deutlich unterhalb des Hauptschulniveaus bewegen“, heißt es. Zu 80 bis 90 Prozent bestehe die Schülerschaft aus Förder- und Hauptschülern. Doch an Sonderpädagogen fehlt es, berichten alle an Gemeinschaftsschulen unterrichtenden Gymnasiallehrer. […]

Der Wegfall von Noten und Versetzung, Lernentwicklungsberichte, keine äußere Differenzierung, Mobbing von Gymnasiallehrern durch Hauptschulkollegen, eine überforderte Schulleitung sowie die Beschönigung von Anmeldenoten seien Alltag, so das Fazit der Betroffenen. […]

Der PhV-Vorsitzende Ralf Scholl erklärt dazu: „Hier wird aus ideologischen Gründen („Eine Schule für alle“) ein ungedeckter Scheck auf Kosten einer ganzen Schülergeneration ausgestellt. Die GMS sind bislang jeden Erfolgsbeweis schuldig geblieben, dass sie — trotz wesentlich höherer Kosten — auch nur einen Deut besser sind als die klassischen Schulformen. (Die GMS erhalten einen Sachkostenzuschuss von über 1.300 € pro Schüler und Jahr im Vergleich zu rund 800 € für Schüler an Gymnasien und Realschulen).

Textauswahl in grau unterlegten Einschüben aus der Pressemitteilung des Philologenverbandes Baden-Württembergs. Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

zum Artikel: FAZ, 13.02.2020, Heike Schmoll, Berlin, „Ich bin als Sozialarbeiter geendet“.
zur Pressemitteilung: Philologenverband BW, 12.02.2020
siehe auch: Die Berliner Gemeinschaftsschule – Des Kaisers neue Kleider? Zum Abschlussbericht Pilotphase der Berliner Gemeinschaftsschulen. Eine Auftragsstudie soll das pädagogische und schulorganisatorische Rahmenkonzept der Berliner Gemeinschaftsschulen legitimieren.

siehe auch: 2020.02.18_Pressemitteilung_3xMEHR_Gemeinschaftsschulkritik

Für manche Eltern in Berlin ist die Schulsuche ein Alptraum

Der Platzmangel schränkt die Wahlmöglichkeiten der künftigen Siebtklässler erheblich ein.

„Drei Wünsche frei“ – so heißt es jetzt wieder für alle Familien, die nach der sechsten Klasse eine weiterführende Schule suchen. Je größer der Schulplatzmangel, desto schwieriger wird es allerdings, eine Entscheidung zu treffen: Die Furcht ist groß, am Ende einer abgelegenen oder leistungsschwachen Schule zugewiesen zu werden. [Tagesspiegel, 04.02.2020]

Als die Schulen noch nicht so voll waren, landeten über 95 Prozent der Kinder auf einer ihrer drei Wunschschulen. [TSP, 20.05.2014] Wer an keiner Wunschschule unterkam, musste sich nach einer Alternative umsehen. Die Zahl dieser Schüler stieg von rund 1000 im Jahr 2014 auf über 2600 im Jahr 2019.

In Berlin besuchen Kinder die Grundschule in der Regel sechs Jahre lang. Manche Kinder wechseln schon nach der Jahrgangsstufe 4 an eine weiterführende Schule, hier gelten aber spezielle Regeln. Für alle anderen startet kurz vor Abschluss des sechsten Schuljahres ein jedes Jahr ähnlich ablaufender Prozess zum Schulwechsel.

Bei der Wahl der weiterführenden Schule werden Eltern und Kinder zunächst von den Grundschulen beraten. Die weiterführenden Schulen bieten zudem Tage der offenen Tür, wo sie beispielsweise auch besondere Fächer, Sprachangebote oder AGs vorstellen, aber auch bestimmte Auswahlkriterien.

In einem festen Anmeldezeitraum, meist im Februar, können Eltern dann ihr Kind in einer Erstwunschschule anmelden (in diesem Jahr: 17.02.2020 – 26.02.2020). Sie können auch einen Zweit- und Drittwunsch angeben. Bei der Anmeldung müssen sie einen Anmeldebogen und die Förderprognose vorgelegen.

Die Förderprognose wird von der Grundschule ausgestellt. Sie beinhaltet eine Durchschnittsnote, die aus den Zeugnisnoten des 2. Halbjahres der 5. Klasse und des 1. Halbjahres der 6. Klasse gebildet wird. Bei Noten über 2,2 wird ein Gymnasium oder eine Integrierte Sekundarschule (ISS) empfohlen, unter 2,8 eine ISS. Dazwischen wird je nach Situation entschieden. Die Schulwahl ist dennoch frei von der Empfehlung.

siehe: https://www.berlin.de/sen/bildung/schule/bildungswege/uebergang-weiterfuehrende-schule/

Weitere Informationen:

Die Schulen entscheiden dann nach einem festgelegten Schema, welche Kinder aufgenommen werden: 10 Prozent der Plätze ist für Härtefälle und Geschwisterkinder reserviert, 60 Prozent nach Note oder bestimmten Anforderungen im Schulprofil (z.B. Musik-Test an einer Schule mit Musik-Profil) – und 30 Prozent im Losverfahren.

Im Mai (in diesem Jahr: 29.05.2020) gehen Informationsbriefe an die Kinder raus, in denen sie über ihren neuen Schulplatz informiert werden. Hat ein Kind weder an der Erst-, Zweit- oder Drittwunschschule einen Platz bekommen, wird ihm ein Platz zugewiesen (in diesem Jahr: 19.06.2020). Diese Schule kann auch in einem anderen Bezirk liegen.

Mutter zu Schulwechsel in Berlin: „Das wären täglich zwei Stunden Fahrtweg für meinen Sohn“
rbb|24,21.05.19, Interview von Sabine Prieß
Was könnte Berlin ändern, damit sich die Situation für künftige Bewerber an weiterführenden Schulen verbessert?
Für mich ist nicht nachvollziehbar, wie man mit Geburtenraten und Schulplätzen – also als mein Kind eingeschult wurde, wurden noch Schulen geschlossen – so schlecht rechnen kann. Ich verstehe nicht, wo das Problem liegt und wie es sein kann, dass es einfach nicht genug Schulplätze gibt. Es sollen ja sogar Kinder gar keinen Schulplatz bekommen haben [Schulplatzversorgung im Südosten durch Untätigkeit des Senats gefährdet, Pressemitteilung vom 15.05.2019]. Und selbst für uns, wo wir einen haben, kann ich mich nicht mit so einem weiten Schulweg anfreunden.

Berliner Schulen: Dauerbaustelle

In Berlin fehlen rund 9500 Schulplätze bis 2021/22 und bis 2025/26 gibt es einen weiteren Bedarf an Schulplätzen in fünfstelliger Höhe. Bildungssenatorin Sandra Scheeres gab zu, dass „weitere Bemühungen zur Beschleunigung der Bau- und Planungsprozesse“ nötig seien [TSP, 03.02.2020, Dauerbaustelle].

Textauswahl in grau unterlegten Einschüben, Diagramm sowie Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

Ministerpräsident Kretschmann: „Rechtschreibung nicht mehr so wichtig wie früher“.

Rechtschreib-Streit: Philologen kritisieren Kretschmann – und die Grundschulen

NEWS4TEACHERS, 27. 01. 2020

STUTTGART. Mit scharfen Worten hat der Vorsitzende des Philologenverbands Baden-Württemberg, Ralf Scholl, die Aussagen von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) zum Thema Rechtschreibung zurückgewiesen – und dabei den Grundschulen einen Seitenhieb versetzt: Die hätten mit der Methode “Schreiben wie Hören” dafür gesorgt, dass eine “ganze Generation von Kindern” mit Rechtsschreibproblemen aufwachse.

Kretschmann hatte die Ansicht vertreten, dass die Bedeutung, Rechtschreibung zu pauken, abnehme, «weil wir heute ja nur noch selten handschriftlich schreiben». Außerdem gebe es «kluge Geräte», die Grammatik und Fehler korrigierten. «Ich glaube nicht, dass Rechtschreibung jetzt zu den großen, gravierenden Problemen der Bildungspolitik gehört», hatte er gesagt und Widerspruch von der CDU und deren Kultusministerin Susanne Eisenmann im eigenen Land geerntet. […]

„Ich habe gute Rechtschreibkenntnisse. Ich glaube, die sind sogar sehr gut.“: Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann [schön für ihn].

Die Stärkung des Deutsch-Unterrichts und der Rechtschreibung, nachdem in den letzten 25 Jahren in den Bildungsplänen immer weniger Wert auf Rechtschreibung gelegt wurde, sei überfällig und richtig. “Die fatale Methode ‘Schreiben nach Hören’ in der Grundschule hat ein übriges dazu getan, eine ganze Generation von Kindern mit massiven Rechtschreibproblemen aus der Schule ins Leben zu entlassen. Es ist gut, dass daraus mittlerweile Konsequenzen gezogen wurden”, meint Scholl mit Blick auf einen Erlass von Landeskultusministerin Susanne Eisenmann (CDU), mit dem die Methode nach einem Absturz Baden-Württembergs im IQB-Länderranking „Schreiben wie Hören“ verboten wurde.

Wenn politische und ideologische Vorstellungen auf Wirklichkeit treffen:

Rainer Werner, Lehrer für Deutsch und Geschichte, Autor, Berlin: „Beim Vera-3-Test [Bundesweite Vergleichsarbeiten im 3. Schuljahr] im Schuljahr 2014/2015 waren die Ergebnisse für die Berliner Grundschüler verheerend. Die Hälfte der Drittklässler erfüllte nicht die Mindestanforderungen an die Rechtschreibung, wie sie die Kultusministerkonferenz (KMK) festgelegt hatte. Sie können, wie es im Kommentar des Instituts für Schulqualität (ISQ) hieß, gerade einmal „lautgetreu“ schreiben. Schüler bringen Wörter also so zu Papier, wie sie diese hören, nicht aber, wie sie korrekt geschrieben werden.“ Aus: FAZ, Bildungswelten, 06.04.2017, Rainer Werner, Sollten Schüler erst einmal so schreiben, wie sie wollen? – Nein!
[Nichts hat sich verändert: In der Rechtschreibprüfung von 2017 erfüllte knapp die Hälfte der Schüler nicht einmal die Mindestanforderungen.]

Im Tagesspiegel schrieb am 11.09.2016, Harald Martenstein eine Glosse zu diesem Thema: „Es gibt seit Jahren einen bundesweiten Schultest namens „Vera“. Berlin schneidet meist desaströs ab. Zuletzt wurde festgestellt, dass etwa die Hälfte der Berliner Drittklässler im Grunde weder lesen noch schreiben kann. Einige wissen immerhin, dass es so etwas wie „Schrift“ gibt. Vor ein paar Tagen kam dank „Tagesspiegel“ heraus, dass die Schulverwaltung die neuen Ergebnisse einfach nicht veröffentlichen wollte, vermutlich, um in der Bevölkerung keine Ängste zu schüren. Das kam nicht gut an, sie mussten den Geheimhaltungsplan aufgeben. Es reicht, wenn die Ergebnisse erst nach der Wahl bekannt werden.
Wenn es dir nicht mal mehr gelingt, etwas zu vertuschen, hast du als Regierender wirklich ein Problem. (…)“

„Vor diesem Hintergrund verdient eine Längsschnittstudie Aufmerksamkeit, in der die Schreibfähigkeit von Viertklässlern untersucht wurde. Wolfgang Steinig, Germanistikprofessor aus Siegen, hat dort in mehreren Zyklen erhoben, wie sich die Fähigkeiten der Grundschülerinnen und Grundschüler in Sachen Zeichensetzung, Grammatik, Textgestaltung und Wortschatz über Jahrzehnte hinweg verändert haben. Dabei kam heraus, dass sich die Zahl der Rechtschreibverstöße, der Flexions- und der Satzbaufehler von der ersten Messung im Jahr 1972 bis zur dritten Messung im Jahr 2012 deutlich erhöht hat. Machten die Schülerinnen und Schüler in den 70er Jahren etwa sieben Rechtschreibfehler pro 100 Wortformen, waren es 2002 rund zwölf und im Jahr 2012 bereits 17 Fehler. […] Einen Grund für die Veränderungen in der Fehlerart sieht der Professor in methodischen Umwälzungen im Anfangsunterricht der Grundschule. Während vor den 70er Jahren die geschriebene und die gesprochene Sprache möglichst von Beginn an mit der korrekten Schreibweise verbunden gelehrt wurden, wird das Schreiben in vielen Bundesländern mittlerweile nach Gehör mithilfe von Anlauttabellen unterrichtet. Die Fehlertoleranz ist enorm hoch.“  Aus: BILDUNGBEWEGT, NR. 27, 3/2015, Sabine Stahl, „von Raichtuum und Amuut“ – Im Dilemma zwischen Wortschatz und Wortwahl, Schreiben und Tippen, Pflicht und Kür.

Agi Schründer-Lenzen, Professorin für Allgemeine Grundschulpädagogik und -didaktik an der Universität Potsdam: Wenn also nach der „Lesen durch Schreiben“-Methode [umgangssprachlich „Schreiben nach Gehör“] mit der Anlauttabelle unterrichtet wird, „dann ist es so, dass die Kinder einen Weg in die Schriftsprache gewiesen bekommen, der grundsätzlich einseitig und auch fehlerhaft ist. Man sollte ihnen vom ersten Tag an das anbieten, was richtig ist“.
Damit scheint sie dem 8-jährigen Jan aus der Seele zu sprechen.  „Also ich würde sagen, dass man schon anfängt, die Fehler zu korrigieren in der Ersten, weil sonst hat man sich da dran gewöhnt zum Beispiel Blatt hinten nur mit einem t zu schreiben. Da kommt auf einmal jemand in der Zwei und sagt, das ist falsch, und das ist falsch. Da kriegt man irgendwie so ein ganz trauriges Gefühl.“  Aus: Deutschlandfunk, 28.08.2014, Aus Kultur- und Sozialwissenschaften, Streit um die richtige Methode.

Prof. Tenorth, Historiker und Bildungsforscher, Humboldt-Universität zu Berlin im Interview mit Heike Schmoll, FAZ, Bildungswelten, 28.12.2017:
Heike Schmoll: Was müsste man tun, um das Dilemma zu lösen, dass es Grundschulen offenbar nicht gelingt, die kulturellen Basiskompetenzen so zu vermitteln, dass weiterführende Schulen darauf aufbauen können?
Prof. Tenorth: […] Die Grundschule garantiert die basale Grundbildung nicht, weder im Lesen, Schreiben und der Orthographie, noch für mathematische Basaloperationen oder naturwissenschaftliche Grundeinsichten im Sachunterricht. Wie kann ein Land, eine Schule, eine professionelle Lehrerschaft damit zufrieden sein oder mit dem Befund, dass sie im besten Fall zehn Prozent in den oberen Leistungsstufen hat?
Hier in Berlin könnte man bei der [Schul-]Verwaltung zuweilen den Eindruck haben, dass man Leistung gar nicht will.
In der Tat gibt es in der Grundschulpädagogik auch die Auffassung, dass man in der Primarstufe nicht leistungsdifferent arbeiten darf, weil das Enttäuschungen bereitet, die Kinder verletzt und ihre Zukunft verbaut – eine Kritik, die ich für aberwitzig halte. Es gibt aber immer noch die Befürworter des Schreibens nach Gehör, die Gegner der Leistungsbewertung und bei allen Bundesländern die Angst, wegen zu strenger Standards schlecht dazustehen. Iglu- und Pisa-Pressekonferenzen sind wohlgeplante Inszenierungen, weil die beteiligten Politiker wochenlang daran gearbeitet haben, nicht über das reden zu müssen, was sie schlecht aussehen lässt. Diese Strategie ist bei allen Bildungspolitikern, gleich welcher Couleur, stark ausgeprägt. Länder wie Bayern tragen das relativ gefasst, weil sie auch relativ gute Ergebnisse haben. Doch auch dort wird daran gefeilt, dass nirgendwo ein kritisches Wort steht, das ein Versäumnis der Bildungspolitik anzeigen könnte. […] Stattdessen hat die Politik ein permanentes Interventionsregime errichtet. Die Politik bejubelt sogar, dass nur noch sechs bis sieben Prozent kein Abschlusszeugnis haben, und ignoriert – gegen die eigenen Kompetenzmessungen –, dass mehr als zwanzig Prozent in der Schule nicht die Kompetenz erwerben, am gesellschaftlichen Leben selbstbestimmt teilzunehmen, und dass etwa 25 Prozent der Ausbildungsverträge nach kurzer Zeit wieder aufgelöst werden, weil elementare Fähigkeiten fehlen.

“Die Professoren an den Hochschulen sind zunehmend fassungslos, wie katastrophal Rechtschreibung und Grammatik in den wissenschaftlichen Arbeiten ihrer Studenten, selbst in wichtigen Abschlussarbeiten, mittlerweile sind”, so sagt Scholl. “Fünf bis zehn Fehler pro Seite sind trotz Rechtschreib- und Grammatikprüfung im Textprogramm keine Seltenheit mehr.” Die Äußerungen des Ministerpräsidenten seien ein Bärendienst für alle Bemühungen, Baden-Württembergs Schüler wieder vom Mittelmaß an die deutsche und internationale Leistungsspitze zu bringen. Auch Mecklenburg-Vorpommerns Bildungsministerin Bettina Martin (SPD) hatte Kretschmann widersprochen. «Ich wundere mich sehr über Winfried Kretschmanns Ansicht, dass Rechtschreibung heutzutage keine Rolle mehr spielen soll», sagte sie. Heute meldete sich die frisch ins Amt als KMK-Präsidentin eingeführte rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD) zu Wort. «Wir müssen in den Schulen dafür Sorge tragen, dass unsere Schülerinnen und Schüler richtig rechnen, lesen und schreiben lernen. Das ist die Grundlage für alles Weitere», betonte sie. «Dazu gehört vor allem auch die Rechtschreibung.» Digitale Endgeräte wie Handys und Tablets hätten viele Vorteile, so Hubig. «Aber wer sich in Sachen Rechtschreibung auf sie verlassen muss, ist schnell verlassen.»

Viele Berliner Schulen reagieren verlegen bis abwehrend, wenn sie nach der Anzahl der Lese-Rechtschreib-Schwachen gefragt werden. Die Zahlen werden auch nicht von der Schulbehörde erhoben – ein Schelm, der dabei Böses denkt. Aus: „Varat“-Fahren – Rechtschreibung in der Grundschule, von Heike Schmoll, S. 9, Sendung: SWR 2, Aula, Sonntag, 28.08.2016

Textauswahl in grau unterlegten Einschüben sowie Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

siehe auch:
Kölner Stadt-Anzeiger, 13.7.2019, Karlheinz Wagner und Michael Hesse im Gespräch mit Prof. Una Röhr-Sendlmeier.
Ideologische Schieflage bei der Rechtschreib-Debatte
„Kinder werden systematisch in die Irre geführt“
Berliner Zeitung, 24.01.2020, Kommentar Tobias Peter, Rechtschreibung ist unwichtig? Unsinn, Herr Kretschmann!
Stuttgarter Zeitung, 24.01.2020, red/dpa/lsw, „Rechtschreibung nicht mehr so wichtig wie früher“.