Archiv der Kategorie: Schulpolitik-Berlin

„Abitur für alle mit Vollkasko-Garantie“ – mit geringer Selbstbeteiligung

Neue Schulen dringend gesucht

Bildungsstaatssekretär Mark Rackles (SPD) im TSP vom 09.03.2017 von Susanne Vieth-Entus:

„Nach derzeitigem Stand ist die Reaktivierung von 16 Liegenschaften und die Erweiterung 68 bestehender Grundschulstandorte geplant“. Von 28 Standorten, die für die Bebauung mit einer neuen Grundschule vorgesehen sind, sind nur neun bereits verfügbar. (…)

Weiter schreibt der TSP:  Auffällig ist, dass kaum Erweiterungen der Gymnasien geplant sind. Rackles begründet dies damit, dass es aktuell noch freie Kapazitäten an Gymnasien gebe. Im Übrigen könnten Oberschulstandorte je nach Bedarf sowohl an Gymnasien als auch als ISS [Integrierte Sekundarschule] genutzt werden. FDP-Bildungspolitiker Paul Fresdorf ist allerdings skeptisch und vermutet, dass der Senat „nur die ideologisch bevorzugte Schulform Gemeinschaftsschule“ privilegieren wolle.  Im Vorfeld hatte bereits der Berliner Philologenverband alarmiert darauf reagiert, dass die Gymnasien im jüngsten Bericht der „AG Schulraumqualität“ überhaupt nicht vorkamen. (…)

Ein Blick in die Vereinbarungen der Koalition aus SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/ Die Grünen zu „Schule und Bildung in Berlin“ bringt die Bestätigung!

Schulneubau – Gemeinschaftsschule:

Die Gemeinschaftsschule wird als schulstufenübergreifende Regelschulart, die Grund- und Sekundarstufe I und II umfasst, in das Schulgesetz aufgenommen. Die Koalition unterstützt bei notwendigem Schulneubau vor allem die Neugründungen von Gemeinschaftsschulen. (Koalitionsvertrag S. 10)

Dort wo Grundschulen und weiterführende Schulen benötigt werden, sind die Neubauten baulich für die Nutzung als Gemeinschaftsschulen vorzusehen. (Koalitionsvertrag S. 66)

Die unverhohlene politische Schwerpunktsetzung auf die Gemeinschaftsschule und kritische Aussagen zu deren propagierter Lernkultur:

In Anbetracht der politisch gewollten und tatsächlich wachsenden Heterogenität in den Schulklassen wird mit dem Konzept der Gemeinschaftsschule die strittige Schlussfolgerung abgeleitet: Unterricht müsse eine weitgehende Individualisierung ermöglichen.

Die kritische Bestandsaufnahme der Gemeinschaftsschule hat jedoch offenbart, dass beim Individuellen Lernen vor allem die Kinder aus bildungsfernen Familien benachteiligt sind, da sie der helfenden und fördernden Hand der Lehrkraft besonders bedürfen. Auch eine noch weitergehende Individualisierung der Lernarrangements, z.B. durch Werkstatt- und Wochenplanarbeit, Arbeit im Lernbüro und im offenen Lernen, wie von der Gemeinschaftsschule propagiert, erscheint nicht als die Problemlösung. Wie in mehreren aktuellen Studien (Hattie, Lipowsky, u.a.) bereits nachgewiesen, läuft diese Vorgehensweise des individualisierenden und selbständigen Lernens Gefahr, dass insbesondere Schüler mit schwächeren und ungünstigeren Voraussetzungen nicht angemessen gefördert werden. Die Schere zwischen leistungsstärkeren und -schwächeren Schülern wird damit nicht verringert. Die politischen Vorgaben, durch die Gemeinschaftsschule Schüler zu mehr Chancengleichheit zu führen und Chancengerechtigkeit zu verwirklichen, kann demnach auf diesem Wege nicht eingelöst werden. Das politische Ziel der rot-rot-grünen Koalition ist dennoch: „Eine Schule für alle“, d.h. eine leistungsnivellierende Einheitsschule, verwirklicht über die Gemeinschaftsschule! Nach dem Motto: „Abitur für alle mit Vollkasko-Garantie“ – mit geringer Selbstbeteiligung. Die Opfer und Leittragenden eines so merkwürdigen Verständnisses von „Bildungsgerechtigkeit“ sind zwangsläufig die Schülerinnen und Schüler, das heißt unsere Kinder!

Siehe:  Frank Lipowsky, Miriam Lotz, Ist Individualisierung der Königsweg zum erfolgreichen Lernen? – Eine Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und empirischen Befunden, 2015; Christoph Türcke, Lehrerdämmerung – Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet, 2016; Martin Wellenreuther, Direkte Instruktion, Michael Felten, Lernwirksamkeit statt Methodenfeuerwerk, Jochen Grell, Das Direkte Unterrichten und seine Feinde, in Pädagogik 1/2014; John Hattie, Lernen sichtbar machen, 2013; John Hattie, Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen, 2014; Frankfurter Allgemeine Zeitung, Bildungswelten, 17.11.2016, Rainer Werner, Rote Laterne für Berlin; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.02.2017, Klaus Ruß, Ermäßigungspädagogik – Wie die Schule es schafft, zu Lasten der Kinder zielstrebig ihre Anforderungen zu senken.

siehe auch: Die Berliner Gemeinschaftsschule – Des Kaisers neue Kleider?  Analyse der Gemeinschaftsschule Berlin

„Eine Schule ist kein Flughafen“

Ordentlich Betrieb machen

TSP, 09.03.2017, Gerd Nowakowski

Eine Schule ist kein Flughafen. Nicht so komplex, überschaubar und kein Hightech-Projekt. Doch in Berlin sind selbst funktionierende Schulbauten eine Herausforderung. Zumal es nicht reicht, die buchstäblich zum Himmel stinkenden Zustände in vielen Schulen zu beseitigen und den Sanierungsstau von mehr als vier Milliarden Euro endlich abzubauen. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Standorte erweitert oder neue Schulen gebaut werden müssen. Bis 2025 wird die Schülerzahl in der wachsenden Stadt um ein Viertel zunehmen – dann sind 75.000 zusätzliche Plätze nötig. Das ist die Dimension, um die es geht. Angesichts der Berliner Verwaltungseffizienz kann einem das Angst machen.

Kinder brauchen Schulen, die den Herausforderungen der wissensbasierten Gesellschaft in einem der reichsten Länder der Welt gerecht werden, Schulen, in denen Lehrer und Schüler sich auf das Lernen konzentrieren können. Die Realität ist eine andere. (…) Im Ergebnis hat der Senat die Schulen verkommen lassen, und die größte Zukunftsressource, die Schulkinder, muss dafür büßen, dass in den 90er Jahren eine unfähige Politik Berlin in die Schuldenfalle manövriert hat. (…)

Selbst wenn man mit einer Task Force, wie zuweilen Politiker vorschlagen, alle Beteiligten [Bezirksämter und Hauptverwaltungen auf Landesebene] an einen Tisch bringt, um Planung und Bauphase zu beschleunigen, steht eine Schule bestenfalls in vier Jahren. [bisher Planung bis Abschluss neun Jahre] (…)

[Sollte eine solche Landesschulbaugesellschaft noch dieses Jahr gegründet werden, ist sie] erst 2018 richtig handlungsfähig. Bis zu diesem Zeitpunkt – zu dem der Flughafen BER nicht einmal eröffnet sein wird – benötigt Berlin aber schon rund 22.000 zusätzliche Schulplätze. [Bis 2020/21 wird mit 40.000 zusätzlichen Schülern gerechnet] Da wird sich der Senat schwertun, den ungeduldigen Eltern zu erklären, dass es noch etwas dauern könnte, bis auch ihre Schule saniert ist. Der Unterschied zum Problem-BER ist nämlich: Auf den Start des Flughafens kann Berlin notfalls noch länger warten – funktionsfähige und moderne Schulen aber brauchen die Kinder jetzt.

Zum Artikel:  TSP, 09.03.2017, Gerd Nowakowski, Ordentlich Betrieb machen

siehe auch:  http://www.tagesspiegel.de/berlin/bildung-in-berlin-so-hoch-ist-der-sanierungsstau-alle-schulen-im-ueberblick/19490374.html

„Es gibt über 80.000 Kinder mehr als Plätze in den Berliner Schulen“

Wie Rot-Rot-Grün Berlin umerziehen will

Bild: dpa, aus FAZ, 14.01.2017

Mit dem Senat in Rot-Rot-Grün wird sich die Stadtgesellschaft atomisieren: Die eigene Klientel bekommt alle Wünsche erfüllt, und die Ideologie bestimmt die Politik – bis ins Detail.

FAZ, von Regina Mönch

(…) Wer im fast zweihundert Seiten starken Koalitionsvertrag der Stadtregierung liest, die sich trotz stotternder Premieren unverdrossen selbst lobt, wird kaum Hoffnung schöpfen, dass sich die Sache mit den Flieh- oder Bindekräften unter ihr zum Guten wenden könnte. Die Versprechen für die Gesamtheit klingen wolkig, bestenfalls selbstverständlich (sozial, Teilhabe, solidarisch), umso lauter werden Gruppenwünsche artikuliert. (…)

Vermisst werden überzeugende Konzepte
Der kleinteilige und detailversessene Koalitionsvertrag mutet in Teilen wie gebündeltes Misstrauen an, vielleicht aus der begründeten Furcht, ein politischer Partner könnte sonst den anderen über den Tisch ziehen mit unverhofft realitätskonformen Plänen. Selten oder gar nicht tauchen die gewaltigen strukturellen Probleme der Stadt auf, die Sicherheitsprobleme, die akute Gefährdungslage, der lahmende Verkehr, die kaputten Straßen und Schulen. Vermisst werden überzeugende Konzepte, wie man etwa möglichst schnell siebzig bis hundert neue Schulen zu bauen gedenkt, weil man sich, wie es dann immer heißt, auf falsche Prognosen verlassen hat. Weil niemand, der für richtige Prognosen hätte sorgen müssen, bemerkte, dass es über 80000 Kinder mehr gibt als Plätze in den Schulen. Im Koalitionsvertrag ist unscharf von „alternativen Finanzierungsmöglichkeiten“ die Rede, mit denen man diesem euphemistisch als „Investitionsstau“ beschriebenen Zustand „beschleunigt“ zu Leibe rücken will.

Die Senatorin, unter der dieser unbehauste Schülerberg anwuchs, ist dieselbe geblieben. Unangefochten von der Tatsache, dass Berlin unter ihrem Management zum Schlusslicht bei Schulleistungsvergleichen avancierte und die meisten Schulversager hat, griff sie sogleich die Lehrer an, denen sie mehr „Selbstevaluation“ empfiehlt. Das ist auch eine Haltung. Das Bildungssystem der Stadt ächzt unter den Folgen zahlloser, meist unausgereifter Reformen, zumindest nannte man sie so. Ob dieser vorsätzliche Murks am Kind, der immer mal wieder zurückgenommen wurde, wenn er sich als völlig untauglich erwies, nun ein Ende hat, ob Berlins Schulen zum Erprobten, Zuverlässigen zurückkehren dürfen, darüber steht nichts im Vertrag.

Zu viele widerstreitende Nischenprojekte drängen auf die politische Bühne
Aber diese Reformitis dürfte eine der Ursachen sein, warum hier so viele Kinder nur unterdurchschnittliche Leistungen erreichen. Umstellt von sozialen Reparaturangeboten und zahllosen Präventionsmaßnahmen, zuweilen von abenteuerlicher Natur, wächst die große Gruppe der Risikoschüler an, ohne dass es einmal zu einer unideologischen Aufarbeitung gekommen wäre. Die Hoffnung, dass sich das mit dieser Koalition ändert, geht gegen null, zu viele widerstreitende Nischenprojekte drängen jetzt auf die politische Bühne. (…)

Hervorhebungen kursiv durch Schulforum-Berlin

zum Artikel:  FAZ, 14.01.2017, Regina Mönch, Vertrag der neuen Koalition – Wie Rot-Rot-Grün Berlin umerziehen will

siehe auch:  Vernebelungsaktionen in Sachen „Schule und Bildung“ im Koalitionsvertrag

„Digitaloffensive für Schulen ist eine „Scheinlösung“

Weitere Beiträge zum „Digitalen Lernen“

(…) Die Deutsche Mathematiker-Vereinigung fordert: „Inhalte statt Geräten“. Tablets und soziale Netzwerke verwenden zu können, heißt noch lange nicht, den digitalen Wandel zu meistern. Vollständig digital kompetent sei nur, wer die theoretischen Grundlagen verstehe. Um diese zu vermitteln, sollten digitale Medien aber „nur ergänzend eingesetzt werden“: „Nach Erfahrung der überwältigenden Mehrheit der Mathematikerinnen und Mathematiker weltweit sind Tafel, Papier und das direkte Unterrichtsgespräch meist viel besser geeignet.“ Priorität müsse bleiben, das analytische Denken gezielt zu lehren. Die Mathematiker halten daher die von Bildungsministerin Johanna Wanka (CDU) vorgeschlagenen Digitaloffensive für Schulen für eine „Scheinlösung“ (…)

Aus:  TSP, 16.11.2016, Tilmann Warnecke, „Digitales Lernen lernen“


(…) Massive Verlierer der neuen Bildungskatastrophe werden diejenigen sein, die in Spracharmut und mit gleichzeitiger Reizinflation aufwachsen – zwischen flimmernden Playstations, Fernsehern, Smartphones. Und das sind Millionen.

Gerade ihnen muss Schule bieten, was immer essentieller wird: die Kenntnis der enormen Privilegien des Analogen trotz digitalisiertem Alltag. Vermitteln kann das nur der analoge Mensch, der präsente, gut ausgebildete und motivierte, der auch individuell mit Schülern arbeitet. Jemand der sie sieht.

Das kostet mehr, als sämtliche Schulen mit Computern zu pflastern, einige Milliarden mehr. Besser würde jedoch in der Bildungsrepublik nirgends investiert.

Aus:  TSP, 22.09.2016, Caroline Fetscher, „Lesen, denken, reden, kochen“


(…) Zu den Auswirkungen von Smartphones auf Schüler und ihre Leistungen gibt es inzwischen viele Studien, die laut dem Hirnforscher Manfred Spitzer nach unterschiedlichen Methoden immer zum selben Ergebnis kommen: Schüler, die keine Smartphones in die Schule mitbringen dürfen, lernen besser und fühlen sich wohler. Und dann stellt man ihnen Laptops vor die Nase? Das ist ja fast schon Sabotage.

Das gute Geld, das die Bildungsministerin versprochen hat, wäre mit Sicherheit besser angelegt in Lehrerschulungen, denn bei guten Lehrern lernt man gut (…).

Aus:  TSP, 20.10.2016, Ariane Bremer, „Rettet die bildschirmfreien Klassenzimmer!“

„Verhaltensauffällige Kinder zahlen heute einen hohen Preis für den Machbarkeitswahn ideologischer Schulreformer“

Rettungsinsel für Versager

von Regina Mönch

Verhaltensauffällige Kinder sind der Schrecken ihrer Schule und doch selbst in Not. In Berlin stärkt ein exklusives Schulprojekt diese Verlierer der Inklusionsreform.

Sie rasten aus, scheinbar ohne Grund, und zwingen eine ganze Klasse in den Bann ihres Ausbruchs. Sie gelten schnell als unverbesserliche Prügler, sind unkonzentriert und laut, ihre Schulleistungen schwanken extrem – sie sind oft der Schrecken einer Schule, auch wenn das niemand so sagen würde. Psychisch auffällige Kinder und Jugendliche sind die wohl größte Herausforderung des mit aller Macht durchgesetzten Inklusionsprojektes. Lehrer verzweifeln daran nicht selten, die Kinder aber, die stark verhaltensauffälligen, immer. Es sind vernachlässigte Kinder darunter und überbehütete, Hochbegabte und solche mit enormen Lernproblemen, Hyperaktive und Depressive. Letztere, in sich zurückgezogen und still, werden dann als Erleichterung erlebt, obwohl die pädagogischen Alarmglocken schellen müssten. (…)

Fast immer erleben sie sich schließlich als böse, als permanente Versager, die keiner mag und erträgt; nach zu vielen Misserfolgen lernen sie vor allem eines: nicht zu lernen. (…)

Verhaltensauffällige Kinder zahlen heute einen hohen Preis für den Machbarkeitswahn ideologischer Schulreformer, die exklusive Förderkonzepte gerade für psychosoziale Störungen geringschätzen, sie gar als Diskriminierung, als „Abschiebepädagogik“ denunzieren – ein Störfaktor auf dem Weg „in eine neue Welt“, in der alle mit allen können sollen, koste es, was es wolle. Seit einigen Jahren gibt es in Berlin auf dem Gelände des Westend-Klinikums einen Ort für diese Kinder, eine kleine, exklusive Schule, schwer erkämpft gegen alle verbohrten Widerstände. Mit ihren hochdifferenzierten Lern- und Therapiekonzepten schafft sie überhaupt erst einmal die Voraussetzung dafür, dass diese Schüler einen Weg ins normale, selbstbestimmte Leben finden, wozu später wieder eine Regelschule oder eine Berufsausbildung gehört.

In der Nachbarschaft ist die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie; ihr Chefarzt Michael von Aster hat diese ungewöhnliche Schule, die Erziehung, Bildung und Therapie zusammenführt, erfunden. Sie war zu Beginn ein Experiment, nirgendwo erprobt, beglaubigt allein durch jahrelange Erfahrung und Beobachtung, dass genau dieser Baustein fehlt.  (…)

An seiner Seite ist von Anfang an die Sonderpädagogin Kerstin Schicke, die Schulleiterin dieser Rettungsinsel, eine begeisterte Pädagogin mit guten Nerven, die dieses Modell, das vom vermeintlich einzig wahren Weg der radikalen Inklusion abwich, selbstbewusst verteidigte, wo es nötig war. Und es war oft nötig. (…) [Sie] haben sich ein hochmotiviertes Team aus Therapeuten und Lehrern zusammengestellt, das für jedes Kind, jeden Jugendlichen ein eigenes Konzept erarbeitet, in das die Eltern einbezogen werden; denn fast allen Störungen liegt ein Beziehungsproblem zugrunde, das ohne sie nicht zu überwinden ist. Der Alltag an dieser „Schule am Westend“, die offiziell „Zentrum für schulische und psychosoziale Rehabilitation“ heißt, ist einerseits ganz normal an den Lehrplänen ausgerichtet. Zusätzlich aber arbeiten Ergo-, Kunst-, Musik- und Sporttherapeuten mit den Schülern.

Der Erfolg dieser Modellschule ist überwältigend. (…) Viele Ehemalige schreiben noch jahrelang an die Schule, wie es ihnen im neuen Leben ergangen ist: dass sie sich, früher fast Schulabbrecher mit Tendenz zum funktionalen Analphabetismus, jetzt auf ihr Abitur vorbereiten oder auf andere Schulabschlüsse oder einen Beruf. (…)

Dieses mit Eigensinn und hoher Professionalität geführte Berliner Modell zeigt, dass Exklusion in vielen Fällen erst die Voraussetzung für Inklusion schafft. Wer das, aus welchen Gründen auch immer, ignoriert, nimmt das verhinderbare Versagen junger Menschen in Kauf. Die einst hochangesehene deutsche Sonderpädagogik hat durch die umstrittene Radikalreform der inklusiven Regelschule nicht nur an Niveau verloren. Es ist bereits so viel Schaden angerichtet, dass Einkehr und Umkehr in vielen Fällen eigentlich dringend geboten sind.

zum Artikel:   FAZ, Feuilleton, 27.12.2016, Regina Mönch, Rettungsinsel für Versager

„Schreiben nach Gehör“ ist keine Methode, sondern unterlassene Hilfeleistung

„von Raichtuum und Amuut“

Im Dilemma zwischen Wortschatz und Wortwahl, Schreiben und Tippen, Pflicht und Kür.

Sabine Stahl, Auszüge aus: BILDUNGBEWEGT, NR. 27, 3/2015

Profil BildungBewegt, Nr.27, 3.2015

(…) Die Sprache, das Lesen und das Schreiben muten wie ein Triptychon an, in dessen Mitte die Sprache ruht. Jedes einzelne Element ist detailreich, aber erst im gemeinsamen Zusammenspiel erschließt sich das kommunikative Potenzial. (…)

Schreiben zu lernen bedeutet schon rein motorisch betrachtet mehr, als lediglich Buchstaben zu malen oder miteinander zu verknüpfen. Der Prozess ist hochkomplex, anspruchsvoll, zeugt von Rhythmik und erfordert Feinmotorik. Bei der Aneignung der Schrift sind Gehirn und Hand, Kognition und Koordination eng miteinander verbunden. Denn das Erlernen komplexer Schreibbewegungen stellt eine koordinative Höchstleistung dar. Seit Längerem ist bekannt, dass händisches Schreiben Lern- und Behaltensprozesse erleichtert und unterstützt. (…)

Die Reaktionen auf die Nachricht, dass Finnland die Schreibschrift mehr oder weniger aufgeben möchte, reichen von fassungslos bis bestürzt. „Bessere Lesbarkeit, die nur technisch erzeugt wird, taugt nicht als Lernziel in der Schule“, kritisiert der Vorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung vbe, Udo Beckmann, diese Entwicklung. Das PISA-Siegerland Finnland stellt es seinen Grundschulen ab dem Herbst 2016 frei, ob sie die Schreibschrift noch lehren möchten. Die Entscheidung darüber liegt beim persönlichen Wollen jeder einzelnen Lehrkraft. Die Kinder sollen mehr tippen, weil das fließende Tippen auf der Tastatur grundständig gelernt werden soll – quasi als nationale Zukunftskompetenz im digitalen Zeitalter. (…)

[Dagegen berichten US-Forscher] im Fachblatt „Psychological Science“, dass händisches Notieren den bewussten Umgang mit Lerninhalten fördert und damit auch die Verstehens- und Gedächtnisleistung verbessert. Schreiben ist eine Kulturtechnik, die zur gesellschaftlichen und kulturellen Teilhabe und zur Erhaltung einer Kultur notwendig ist. Kulturtechniken werden durch Erziehung, Unterricht und Sozialisation weitergegeben. Techniken müssen geübt werden, um sie zu vervollkommnen. Das ist beim Schreiben nicht anders als beim Sport. Ist es den Kindern tatsächlich nicht zumutbar, komplexe Fertigkeiten zu erlernen? (…)

Wer jetzt den Finger warnend hebt und denkt, die Entwicklung werde an der Bundesrepublik vorbeigehen, den lehrt ein Blick in die Bundesländer eines Besseren. So hat die Hansestadt Hamburg bereits eine Grundschrift eingeführt, die wie eine Variante der Druckschrift aussieht. Auch in Thüringen und in Nordrhein-Westfalen dominiert die Druckbuchstabenschrift. Und dies, obwohl sich Anzeichen mehren, die die positiven Auswirkungen einer verbundenen Handschrift auf das sprachliche Können und die Rechtschreibkompetenz von Kindern zeigen (vgl. SCHEER 2015).

Die Handschrift ist Ausdruck der Persönlichkeit. Sie ist auch ein Zugang zur Identitätsfindung und ein einzigartiger Informationsträger. Dennoch plädieren nicht wenige für die Abschaffung der verbundenen Schreibschrift. Die Argumente lauten: Man wolle es den Kindern nicht unnötig schwer machen. (…) Inzwischen macht sich allerdings zunehmend die Sorge breit, ob gutgemeinte Vereinfachungen möglicherweise mit Nachteilen für die Lernenden verbunden sein könnten.

US-Forscher hatten im vergangenen Jahr in einer Studie festgestellt, dass Lernstoff besser memoriert wird, wenn er mit der Hand analog und nicht digital notiert wird. Während in der Vergangenheit viele Studien eher die Frage untersucht hatten, ob und inwieweit elektronische Hilfsmittel ablenken und die Konzentration stören, hat diese Studie den Lerneffekt verglichen, der sich beim Mitschreiben bzw. beim Eintippen per Tastatur beobachten lässt. Das Ergebnis: Wer sich mit der Hand Notizen macht, behält die Inhalte von Vorträgen besser und auch länger als tippende Vergleichsprobandinnen und -probanden. Der Effekt ist umso stärker, je komplexer Sachverhalte sind und je mehr Verstehensprozesse oder gedankliche Transferleistungen im Vordergrund stehen. (…)

Das Schreibschrift-Üben hat mit Muße, Sinnlichkeit, Komplexität, Aufmerksamkeit und Anspruch zu tun. Es bedeutet auch, das am höchsten differenzierte menschliche Bewegungsorgan zu nutzen: die Hand. Das hat Folgen. Da beim Schreiben(-lernen) sensomotorische, visuelle, emotionale und sogar auditive Prozesse ineinandergreifen, werden alle Hirnstrukturen auf besondere Weise gefordert. (…) Bei täglicher Übung und Perfektionierung zeigen sich stabile, langfristige Veränderungen der neuronalen Netzwerke und der Gehirnstruktur. Hand und Gehirn beeinflussen sich demnach wechselseitig. Auch die untrainierte Hand profitiert, denn beim Lernvorgang wird das Bewegungsmuster gewissermaßen auf andere Gliedmaßen übertragen. Wenn das kein Plädoyer für das Erlernen einer verbundenen, komplexen Schreibschrift ist! (…)

In Hirnscans konnte aufgezeigt werden, dass das Schreiben per Hand das Gehirn auf besondere Weise beschäftigt und völlig andere Erregungsmuster generiert, als wenn der gleiche Inhalt per Tastatur eingegeben wird. „Der größere motorische Aufwand beim handschriftlichen Notieren führt zu komplexeren und somit stabileren Verknüpfungen im Gedächtnis“ (PASCHEK 2012, S. 26).

Schreiben stellt eine motorische und eine kognitive Fähigkeit dar. Anders als andere menschliche Fähigkeiten ist es evolutiv nicht angelegt und muss als Kulturtechnik erlernt, erprobt und geschult werden. Die Schrift leistet dabei deutlich mehr als nur Informationen weiterzugeben. Zu ihrer Charakteristik gehört es, dass sie regelhaften Mustern folgt. Regeln wiederum lassen sich einüben und anwenden. Ergo lassen sich korrektes Schreiben und auch das Vermögen, sich präzise auszudrücken, erlernen und beherrschen. Dabei hat der Eingang in das Reich der Literatur seinen Preis, wie der Philosoph Konrad Paul Liessmann schreibt. Gerade weil das „Entziffern und Arrangieren“ von Buchstaben nicht von Natur aus gegeben ist, erfordert es eine „Disziplinierung der Sinne und des Körpers“ wie kein anderes Medium (vgl. LIESSMANN 2014). Als Belohnung winken Weltaneignung und Welterzeugung. (…)

Vor diesem Hintergrund verdient eine Längsschnittstudie Aufmerksamkeit, in der die Schreibfähigkeit von Viertklässlern untersucht wurde. Wolfgang Steinig, Germanistikprofessor aus Siegen, hat dort in mehreren Zyklen erhoben, wie sich die Fähigkeiten der Grundschülerinnen und Grundschüler in Sachen Zeichensetzung, Grammatik, Textgestaltung und Wortschatz über Jahrzehnte hinweg verändert haben. Dabei kam heraus, dass sich die Zahl der Rechtschreibverstöße, der Flexions- und der Satzbaufehler von der ersten Messung im Jahr 1972 bis zur dritten Messung im Jahr 2012 deutlich erhöht hat. Machten die Schülerinnen und Schüler in den 70er Jahren etwa sieben Rechtschreibfehler pro 100 Wortformen, waren es 2002 rund zwölf und im Jahr 2012 bereits 17 Fehler. (…)

Einen Grund für die Veränderungen in der Fehlerart sieht der Professor in methodischen Umwälzungen im Anfangsunterricht der Grundschule. Während vor den 70er Jahren die geschriebene und die gesprochene Sprache möglichst von Beginn an mit der korrekten Schreibweise verbunden gelehrt wurden, wird das Schreiben in vielen Bundesländern mittlerweile nach Gehör mithilfe von Anlauttabellen unterrichtet. Die Fehlertoleranz ist enorm hoch. Diese Lehrmethode geht vom gesprochenen Wort aus, bei dem Kinder jene Wörter laut aussprechen, die sie aufschreiben wollen. Anschließend suchen sie sich die entsprechenden Buchstaben aus der Anlauttabelle heraus und schreiben die Buchstaben nacheinander ab. Dies führt zu interessanten Wortgebilden. Uhr heißt dann Ua, Butter sieht aus wie buta, der Tiger liest sich geschrieben wie Tieger. Das Prinzip der Regeltreue wird so zunächst aus den Angeln gehoben. Steinig sieht in genau diesem Unterricht und in der Art, wie Rechtschreibung vermittelt wird, eine Ursache der größeren Fehlerhäufigkeit und nicht darin, dass „die Kinder in den letzten 40 Jahren dümmer geworden sind“ (STEINIG 2013). Allerdings konstatiert der Germanistikprofessor auch, dass die Texte der Kinder inzwischen meinungsfreudiger und fantasievoller geworden seien und einen stärker kommentierenden Charakter hätten. Die Befürworter der Lehrmethode des Schreibens nach Gehör mithilfe der Anlauttabelle argumentieren, dass Kinder beim „Lesenlernen durch Schreiben“ nicht von formgebenden Regeln wie Orthografie, Grammatik oder Semantik gehindert oder gestört werden. Wie es richtig geht, können sie später immer noch lernen. (…)

Wenn also nach der „Lesen durch Schreiben“-Methode mit der Anlauttabelle unterrichtet wird, „dann ist es so, dass die Kinder einen Weg in die Schriftsprache gewiesen bekommen, der grundsätzlich einseitig und auch fehlerhaft ist. Man sollte ihnen vom ersten Tag an das anbieten, was richtig ist,“ sagt Agi Schründer-Lenzen, Professorin für Allgemeine Grundschulpädagogik und -didaktik an der Universität Potsdam. Damit scheint sie dem 8-jährigen Jan aus der Seele zu sprechen.

„Also ich würde sagen, dass man schon anfängt, die Fehler zu korrigieren in der Ersten, weil sonst hat man sich da dran gewöhnt zum Beispiel Blatt hinten nur mit einem t zu schreiben. Da kommt auf einmal jemand in der Zwei und sagt, das ist falsch, und das ist falsch. Da kriegt man irgendwie so ein ganz trauriges Gefühl.“

Aus: Deutschlandfunk, 28.08.2014, Aus Kultur- und Sozialwissenschaften, Streit um die richtige Methode  [Eingefügt durch Schulforum-Berlin]

Der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann konstatiert zur Tatsache, dass grundlegende Kulturtechniken nicht mehr beherrscht werden: „Volkskrankheit Analphabetismus“! Er sieht darin „den Skandal der modernen Zivilisation schlechthin“. Schreiben nach Gehör sowie das Ansinnen, Texte immer weiter zu vereinfachen, um die Lesefähigkeit zu verbessern oder auch die Vereinfachung der Schrift zählen für ihn zu hochproblematischen Methoden und Strategien (LIESSMANN 2014). (…) Die Tatsache, dass der Erwerb von Kulturtechniken nicht jedem leicht fällt, kann daher nicht als Grund herhalten, „das Betrachten von Bildern zu einem Akt des Lesens und das Ankreuzen von Wahlmöglichkeiten zu einem Akt des Schreibens hochzustilisieren“. „Wenn etwas schwerfällt, bieten die Didaktiker Erleichterungen an. Doch wo alle Schwierigkeiten umgangen werden, herrscht eine Praxis der Unbildung“ (LIESSMANN 2014). Damit auch weiterhin in und mit Sprache gedacht, argumentiert, artikuliert oder abgewogen und fein nuanciert wird, solle lieber alles Erdenkliche unternommen werden, damit auch jene mit Schwierigkeiten wirklich Schreiben und Lesen lernen.

Die Publikation BILDUNGBEWEGT des Hessischen Kultusministeriums für Lehrerbildung – wird nicht mehr aufgelegt!

siehe auch: „Der Schreibvielfalt sind je nach dialektaler Färbung keine Grenzen gesetzt“

siehe auch: Die Hälfte der Drittklässler erfüllt nicht einmal die Mindeststandards, Schreiben ungenügend