Vernebelungsaktionen in Sachen „Schule und Bildung“ im Koalitionsvertrag

Vernebelung im Konjunktiv

Die Vereinbarungen der Koalition aus SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/ Die Grünen zu „Schule und Bildung in Berlin“ werden im Koalitionsvertrag, wie im Tagesspiegel vom 22.11.2016 auf der ersten Seite zu lesen war, mit den Begriffen „Hätte. Könnte. Sollte.“ charakterisiert.

Die Koalitionäre und die zukünftige Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie versuchen es nun auch mit folgenden Vernebelungsaktionen in ihrem Programm.

Bundesweite Vergleichsarbeiten:

„Der Zeitpunkt für die Durchführung der Vergleichsarbeiten (Vera 3) wird in der Grundschule in die Jahrgangsstufe 4 verlegt, um eine bessere Passung zu den erwarteten Bildungsstandards zu schaffen.“ (Koalitionsvereinbarung, S. 9)

Bereits am 11.09.2016 entlarvte Harald Martenstein im Tagesspiegel diese Vorgehensweise:

Es gibt seit Jahren einen bundesweiten Schultest namens “Vera”. Berlin schneidet meist desaströs ab. Zuletzt wurde festgestellt, dass etwa die Hälfte der Berliner Drittklässler im Grunde weder lesen noch schreiben kann. Einige wissen immerhin, dass es so etwas wie “Schrift” gibt. Vor ein paar Tagen kam dank “Tagesspiegel” heraus, dass die Schulverwaltung die neuen Ergebnisse einfach nicht veröffentlichen wollte, vermutlich, um in der Bevölkerung keine Ängste zu schüren. Das kam nicht gut an, sie mussten den Geheimhaltungsplan aufgeben. Es reicht, wenn die Ergebnisse erst nach der Wahl bekannt werden.
Wenn es dir nicht mal mehr gelingt, etwas zu vertuschen, hast du als Regierender wirklich ein Problem. (…)

Schulsanierung – Schulneubau – Gemeinschaftsschule:

Die Gemeinschaftsschule wird als schulstufenübergreifende Regelschulart, die Grund- und Sekundarstufe I und II umfasst, in das Schulgesetz aufgenommen. Die Koalition unterstützt bei notwendigem Schulneubau vor allem die Neugründungen von Gemeinschaftsschulen. (S. 10)

Die Koalition will den Schulbau in neuer Qualität starten: pädagogische, bauliche und ökologische Ziele bestimmen die Schule der Zukunft. (S. 17)

Dort wo Grundschulen und weiterführende Schulen benötigt werden, sind die Neubauten baulich für die Nutzung als Gemeinschaftsschulen vorzusehen. (S. 66)

Angestrebt werden Bautypen, die die klassische „Flurschule“ durch sog. Cluster-Bauweise ablösen und die Einrichtung von sogenannten Lernhäusern ermöglichen. (…) Bei Schulsanierung und Neubau geht es um das größte Investitionsvorhaben Berlins seit Jahrzehnten. (S. 130)

Wie war die bisherige und langjährige bauliche Situation:

“Die Schulen seit Jahren auf Verschleiß gefahren” so kommentiert Ulrich Zawatka-Gerlach im  Tagesspiegel am 8.6.2016 die Situation.

Schulsanierung: Viel versprochen, oft gebrochen. Die Parteien haben die Sanierung maroder Schulen wieder entdeckt – nicht zum ersten Mal. Eine echte Veränderung würde Milliarden kosten.

Das Problem zerbröselnder Schulgebäude ist seit den neunziger Jahren bekannt – den Schülern und Eltern, aber auch dem Senat, dem Abgeordnetenhaus und den Bezirken.

Die Lage [der Schulen in Berlin] ist insgesamt so ernst, dass auf einmal viele Parteien darüber grübeln, wie sich dieGabriel’schen Kathedralen der Bildung“ in einen menschenwürdigen Zustand versetzen lassen. (…)

Beispiele zum Sanierungsbedarf von Eltern gesammelt siehe:  „Einstürzende Schulbauten“ heißt ein Adventskalender, in dem Eltern täglich eine Schule anprangern.

Foto: Daniela von Treuenfels, TSP, 24.06.2015

Foto: Daniela von Treuenfels, TSP, 24.06.2015

Die unverhohlene politische Schwerpunktsetzung auf die Gemeinschaftsschule  und kritische Aussagen zu deren propagierter Lernkultur:

Die kritische Bestandsaufnahme der Gemeinschaftsschule hat offenbart, dass beim Individuellen Lernen vor allem die Kinder aus bildungsfernen Familien benachteiligt sind, da sie der helfenden und fördernden Hand der Lehrkraft besonders bedürfen. Das in der Gemeinschaftsschule vorherrschende Selbstlernkonzept verhindert eine sinnvolle Förderung leistungsschwacher Schüler und vergrößert dadurch die Benachteiligung von Kindern aus bildungsfernen Familien.

aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Bildungswelten, 17. 11. 2016, Rainer Werner, Rote Laterne für Berlin

siehe auch: Frank Lipowsky, Miriam Lotz, Ist Individualisierung der Königsweg zum erfolgreichen Lernen? – Eine Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und empirischen Befunden, 2015; Christoph Türcke, Lehrerdämmerung – Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet, 2016; Martin Wellenreuther, Direkte Instruktion, Michael Felten, Lernwirksamkeit statt Methodenfeuerwerk, Jochen Grell, Das Direkte Unterrichten und seine Feinde, in Pädagogik 1/2014; John Hattie, Lernen sichtbar machen, 2013; John Hattie, Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen, 2014

siehe auch: Die Berliner Gemeinschaftsschule – Des Kaisers neue Kleider?  Analyse der Gemeinschaftsschule Berlin

Mehr ausgebildete Lehrkräfte, weniger Unterrichtsausfall:

Die Koalition wird die personelle Ausstattung der Schulen verbessern und damit einen entscheidenden Schritt gehen, um Unterrichtsausfall und Überlastung der Lehrkräfte deutlich zu reduzieren.

Zur Entlastung soll zukünftig jede Schule ein Stundendeputat für Mentor*innentätigkeit für die Ausbildung und Unterstützung von Referendar*innen, Praktikant*innen und Quereinsteiger*innen erhalten. (…) Als Beitrag zur Fachkräftesicherung bei Lehrkräften wird geprüft, ob hierzu weitere Anreizinstrumente erforderlich sind. Die Zahl der Referendariatsplätze wird schrittweise ausgeweitet. Die Koalition wird die Lehrkräftefort- und -weiterbildung stärken und ausbauen, insbesondere für Quereinsteiger*innen. (S. 12)

Wie war die bisherige und langjährige schulische Situation:

Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2015 zeigen, dass nahezu alle [Bundes-]Länder sowohl fachfremd unterrichtende Lehrkräfte als auch Quereinsteiger einsetzen.
Besonders hoch ist der Anteil der Quereinsteiger in den ostdeutschen Ländern, was auf die seit Jahren hohe Anzahl von Pensionierungen und den daraus resultierenden Lehrkräftemangel zurückzuführen ist [Hauptsächlich geschuldet den politischen Entscheidungen in der Lehrerausbildung]. Außerdem zeigt sich, dass die überwiegende Mehrheit der fachfremd unterrichtenden Lehrkräfte und der Quereinsteiger in nichtgymnasialen Schulen eingesetzt wird. (IQB-Bildungstrends 2015, S. 28f)

Im IQB-Bildungstrend 2015 wurde darüber hinaus untersucht, ob die Qualifikation und der Fortbildungsbesuch der Lehrkräfte mit den Kompetenzen zusammenhängen, die von ihren Schülerinnen und Schülern erreicht werden.

Die Ergebnisse zeigen, dass die von fachfremden Lehrkräften unterrichteten Schülerinnen und Schüler sowohl in Deutsch als auch in Englisch auch nach statistischer Kontrolle der Klassenzusammensetzung im Durchschnitt geringere Kompetenzen erreichen als die von Fachlehrkräften unterrichteten Schülerinnen und Schüler. In einzelnen Kompetenzbereichen sind die Leistungsnachteile an nichtgymnasialen Schulen besonders ausgeprägt. Nachdem negative Zusammenhänge fachfremd erteilten Unterrichts mit den Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern bereits im IQB-Ländervergleich 2011 in der Primarstufe und im IQB-Ländervergleich 2012 in der Sekundarstufe I insbesondere für das Fach Mathematik festgestellt wurden, bestätigen die Befunde des IQB-Bildungstrends 2015, dass diese Zusammenhänge auch in den sprachlichen Fächern in der Sekundarstufe I bestehen. (S.29)

nachzulesen:  IQB-Bildungstrend 2015 Zusammenfassung

siehe auch: Berliner Bildungsdesaster – wo bleibt der Aufschrei der Eltern? TSP vom 8.2.2016, Berlin braucht 1000 neue Grundschullehrer – hat aber nur 175

Der Anteil des „fachfremd“ erteilten Unterrichts wird kaum erhoben, dürfte aber an vielen Schulen bei über 50 Prozent liegen. Dies bedeutet, dass viele Schüler etwa in Mathematik nur maximal in vier von zehn Schuljahren von Fachlehrern unterrichtet werden. (…) [Weiter wird berichtet, dass] es inzwischen Sekundarschulen gibt, die nur noch über einen einzigen ausgebildeten Mathematiklehrer verfügen. (…) Diese Lage führt dazu, dass der einzige verbliebene Mathematiklehrer auch noch die Aufgabe hat, die Quereinsteiger einzuarbeiten und Referendare zu betreuen. (…)

zum Artikel:  Der Tagesspiegel, 28.10.2016, Susanne Vieth-Entus, Amory Burchard,  Deutsch, Mathe, Englisch – keine Besserung in Sicht

Weitere ausführliche Informationen und Stellungnahmen zum Thema „Schule und Bildung“ im Koalitionsvertrag  siehe unter:  Stellungnahme der Vereinigung der Oberstudiendirektoren des Landes Berlin e.V. zum Koalitionsvertrag

Im folgenden werden einige Punkte aus dem Koalitionsvertrag aufgeführt und kommentiert, die für Lehrkräfte an beruflichen Schulen von besonderem Interesse sind. Siehe unter: Berufsverband für Berufsschullehrer BLBS, Landesverband Berlin

Auszüge zur Schul- und Bildungspolitik in den Koalitionsvereinbarungen – 2016 im PDF-Format zum Herunterladen