Wehe, einer fällt durch

Datum: 22.03.2014
Sehr gute Schüler sind die Betrogenen, schwache auch – Inklusion und Leistungsprinzip
von Ursula Weidenfeld
Viele junge Menschen fühlen sich nicht mehr für ihren Lern- und Lebenserfolg verantwortlich. Sie haben es nicht anders gelernt, denn Schulen und Hochschulen haben das Leistungsprinzip suspendiert.

Ein Student tut sich schwer in seinem Master-Studiengang. Bestenfalls eine Vier ist drin, manche Arbeiten gehen ganz schief. Nach einiger Zeit sucht er das Gespräch mit der Dozentin. Er findet seine Noten ungerecht. Sie erklärt ihm, warum die jetzigen Leistungen nicht ausreichen und möchte wissen, warum er sich ausgerechnet für das Aufbaustudium entschieden hat. Der Student denkt eine Weile nach. Er sagt, bisher, in der Schule, beim Abitur, habe er immer ganz gute Noten bekommen. Dann fragt er: „Was wollen Sie jetzt tun, damit ich besser abschneide?“
Nach dem erlernten Prinzip:  „Frage nicht, was Du selbst tun kannst – frage zuerst Deine Schule/Universität, was sie für Dich tun will.“
Elternhaus, Grundschulen, weiterführende Schulen und Hochschulen selbst züchten die Anspruchshaltung, unter der sie anschließend wortgewaltig leiden. Sie senken bereits über Jahre die Ansprüche. Sie haben das Leistungsprinzip suspendiert.
„Das Ziel ist klar und richtig: Kein Kind soll zurück gelassen werden. Dafür aber nimmt man in Kauf, dass alle ein bisschen 〈oder auch mehr〉 zurückfallen. Bis zum Schulabschluss haben nicht nur die betroffenen Kinder gelernt, dass Leistung relativ ist. Die ungeförderten Schüler sind die Leidtragenden, die sehr guten Schüler die Betrogenen.“
Wenn die Inklusion den Marsch durch die Institutionen vollendet hat, erscheint auf dem Zeugnis jedes Handicap als ausgeglichen. Unbeantwortet aber bleibt die vertrackte Frage, von welchem Lebensalter an das Leistungsprinzip als zumutbar gelten darf.

zum Artikel:  Der Tagesspiegel, Meinung, 22.03.2015, Ursule Weidenfeld, Sehr gute Schüler sind die Betrogenen, schwache auch